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Jüdisch-christlicher Tag für Dialog, Mut und Widerstand - „Alle wieder an einen Tisch“
Am Rogate-Sonntag, 25. Mai, lud die Friedenskirche Charlottenburg zur Begegnung auf ihrem Campus ein. Unter dem Motto „Frauen, die mit List dem Antisemitismus widerstehen“ erinnerte der Gottesdienst zu Beginn an die Hebammen in 2. Mose 1, die sich der Gewalt und dem Hass in ihrer Zeit widersetzten. Die Hebammen widersprachen nicht, drehten aber mutig die – erste antisemitische – Propaganda des Pharao um, Israeliten seien eine Bedrohung für die ägyptische Gesellschaft: „Ja, die hebräischen Frauen sind stark – wir kommen immer zu spät!“ Sie retteten so listig Leben. Pastor Kissel warnte in seiner Predigt davor, Hamas-Sprache zu übernehmen, wenn von „Genozid“ gesprochen wird: Wer so bedrohlich erscheint, darf mit allen Mitteln bekämpft werden. Es ist vergleichbar mit der Enttabuisierung von Nazi-Sprech bei der AfD. Er erinnerte aber auch daran, dass das Trauern nicht einseitig sein darf: Auch die betroffenen Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza und ihre Angelhöreingen in Deutschland müssen trauern dürfen. Viele von ihnen erleben heute ein ähnliches Dilemma wie viele Deutsche nach dem Krieg, die aus den Ostgebieten fliehen mussten: Ihre Verarbeitung wurde oft mit dem Verdacht verknüpft, das Naziregime zu verharmlosen, und oft klang bzw. war es auch so. In diesem Dilemma zwischen Trauer und notwendiger Klarheit vor Abgrenzung zur Hamasdiktatur stecken auch heute arabische Menschen in Deutschland.
„Rogate – Betet!“ heißt auch: Nähe zu Gott suchen – und bedeutet immer auch das Zueinander wagen. Die Idee für „Alle wieder an einen Tisch“ wurde von jüdischen Partnern an die Gemeinde herangetragen, nicht nur, weil man in vielen Projekten gut zusammenarbeitet, sondern vor allem, weil sie nach dem 7. Oktober Empathie zeigt und weiterhin die Begegnung sucht. So organisierten Jehi'Or – Jüdisches Bildungswerk (getragen durch die Jüdische Gemeinde zu Berlin), die Jüdische Gemeinde Chabad Lubawitsch, der Landesrat Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg sowie die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin e.V. einen langen Tisch. Die Besucher brachten Essen mit und kamen am Tisch vom Hof bis zur Straße über leichte und schwere Fragen ins Gespräch.
Regen verhinderte zwar das Kinderschminken, aber das jüdische Puppentheater „Bubales“ sorgte mit dem Stück „Die Koschermaschine“ für Lachen und Staunen. Höhepunkt war die Talkrunde „Nie wieder! Schon wieder!? – Und wie alle wieder an einen Tisch?“ mit dem Psychologen Ahmad Mansour und Reinhard Naumann, evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Berlin und ehemaliger Bezirksbürgermeister. Rund 100 Gäste lauschten ihren Worten. Der arabisch-palästinensische Israeli Mansour, selbst Muslim, mahnte eindringlich: „Der Schock war nicht nur der 7. Oktober, sondern das Schweigen der deutschen Gesellschaft – lange bevor Israel in Gaza militärisch eingriff.“ Für vieles sind die Deutschen auf die Straße gegangen, erinnerte an die wichtige „Wir sind mehr“-Demonstration. Aber für die Juden in Deutschland und die damals noch 250 lebenden Geiseln nur marginal. Mansour betonte, dass die deutsche Abwehr des Antisemitismus an der Schuld und der daraus erwachsenden Verantwortung ansetzt, was heute nicht mehr greift, nicht nur bei Menschen mit Migrationshintergrund. Tatsächlich begegnet man Israelis und Juden mit diesem Ansatz noch nicht wirklich: „… und das führt zu Sprachlosigkeit. Menschen schweigen, weil sie die andere Seite nicht kennen und keine Empathie entwickeln können.“
Am Abend beschloss ein Konzert mit dem Jarock Ensemble den Tag – mit Musik und Poesie von einst vertriebenen deutschen Juden, die heute Teil der israelischen Kultur sind. Die Musiker brachten diese Stimmen, diese Musik und diese Gedichte zurück „nach Hause“ – ein Zeichen, dass Kultur auch in schwierigen Zeiten Brücken schlägt und Hoffnung schenken kann.