Sylvester

Morgen Abend stehen wir an der Grenze zwischen zwei Jahren. Eine gesetzte, künstliche Grenze, denn eigentlich ist der Wechsel von heute zu morgen ja auch nicht anders als der Wechsel von gestern zu heute oder jeder andere Tageswechsel. Aber dieser Wechsel hilft uns, in der Gleichförmigkeit der Alltagsroutine einmal im Jahr innezuhalten und bewusst sowohl zurück als auch nach vorne zu blicken. 

Wovon war das vergangene Jahr geprägt? Welche Bilder sind haften geblieben? 

Die Jahresrückblicke in den Medien erinnern uns an: da ist vor allem der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Folgen; aber eben auch andere Herausforderungen wie die RSV-Welle, die vor allem Kinderkliniken an den Rand der Kapazität gebracht hat; und natürlich immer noch Corona, wenn auch in ganz anderer Intensität als die Jahre davor; da sind die Waldbände in Südeurope, die uns noch unmittelbarer als sonst den Klimawandel vor Augen führen und uns deutlich machen, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, wenn es um die Rettung unseres Planeten geht; nicht zu vergessen der Tod Mahsa Aminis, die in iranischem Polizeigewahrsam stirbt, weil sie angeblich ein Kopftuch nicht korrekt getragen hat - die Proteste dauern bis heute an; dann die Proteste in China, die ein Ende der Null-Covid-Strategie einläuten ... 

Auch als Friedenskirche ziehen wir Bilanz, addieren die Zahl der Getauften, der Ausgetretenen, der Verstorbenen usw. 

Doch das Wichtige sind nicht die Zahlen. Es geht nicht darum, dass "unterm Strich die Bilanzen stimmen". Wichtig sind die ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, die mit jeder einzelnen dieser Zahlen verbunden sind. 

Vielleicht haben wir an der einen oder anderen "Zahl" auch ganz persönlich Anteil genommen und haben die Bilder noch vor Augen. Ganz gewiss aber bringen wir unsere eigenen "Bilder und Zahlen" heute mit.

Ich finde immer wieder erstaunlich, was so alles in ein einziges Jahr hineinpasst an Erlebnissen; manchmal nur kurze Momentaufnahmen, die dennoch ganz tief im Kopf und im Herzen gespeichert werden, manchmal Ereignisse, die mein ganzes Leben über den Haufen werfen. Not, Leid, Freude, Dankbarkeit, Trauer, Glück... 

Welche Gefühle sind für uns verbunden mit dem Jahr 2022? 

War es ein Jahr, von dem man gerne noch viele weitere haben könnte? 

Oder war es ein Jahr, das man auf keinen Fall wieder haben möchte, bei dem es gut ist, dass es nun (fast) vorbei ist?

So oder so: das vergangene Jahr steht nun fest; das Geschehene ist nicht mehr veränderbar. Verpasste Chancen bleiben verpasst. Und umgekehrt kann uns aber auch niemand mehr die schönen Momente wegnehmen! Auch, wenn das Leben kontinuierlich weitergeht: morgen blicken wir zurück, d.h. wir stecken nicht mehr mittendrin. Das gibt uns die Chance, mit diesem Abschnitt unseres Lebens unseren Frieden zu machen - weil wir sowieso schon zufrieden sind, oder weil das, womit wir hadern, für das erste seinen Abschluss gefunden hat; und weil so, wie das alte Jahr festgeschrieben ist, vor uns ein ganz neues, unvoreingenommenes, geheimnisvolles Jahr liegt, offen für neue Chancen, für neue Möglichkeiten, für allerlei Überraschungen, für eine neue Zukunft.

Die Grenze zwischen den Jahren markiert also nicht nur im eigentlichen Sinn eine (zuweilen sehr wohltuende) Begrenzung, sondern stellt zugleich einen Übergang dar von der Vergangenheit in die Zukunft. 

Für diesen Übergang, für die neue, unbekannte Zukunft, bekommen wir morgen die Worte der Jahreslosung - du bist ein Gott, der mich sieht - mit auf den Weg.

Sie machen deutlich , dass Gott uns unverbrüchlich liebt. Ob wir nun selber diese Überzeugung in uns tragen, oder ob wir darauf angewiesen sind, dass andere sie mit uns teilen: es ist eine wundervolle Grundlage, um mit ihr in das neue Jahr hinüberzugehen. Selbst wenn wir Gott gerade gar nicht lieben können, wenn es zu vieles gibt, worüber wir mit Gott hadern; dann gilt doch ganz unverbrüchlich Gottes Liebe zu uns! Die Jahreslosung für das kommende Jahr zielt genau darauf ab: Gott sieht uns! Auch wenn er für uns durch den Alltag manchmal bis zu Unkenntlichkeit verblasst. Er hat ein Auge auf uns und verleiht uns so Ansehen und Würde.

Auch 2023.

Einen guten `Rutsch!