Einleitung
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums haben wir eine gedruckte Chronik der Gemeinde erstellt. Nachstehend ist diese in digitaler Form zu finden und wird sukzessive ergänzt. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken!
Chronik Kapitel
- Vorwort
- Der weite Weg der Baptisten nach Berlin
- Anfänge im Charlottenburger Kiez 1888 bis 1909
- Konsolidierung in Kriegszeiten 1910 bis 1919
- In eigenen Mauern 1920 bis 1929
- Innere und äußere Stürme 1930 bis 1945
- Wiederaufbau und Neuorientierung 1946 bis 1959
- Expansionspläne im Mauer-Berlin 1960 bis 1972
- Charisma und Mission 1973 bis 1989
- Einheit als Herausforderung 1990 bis 1998
- Randnotizen
- Impressum/ Quellen und Literatur
Chronik - Vorwort
An den Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: So spricht der Heilige ... Ich kenne deine Werke, und ich habe vor dir eine Türe geöffnet, die niemand mehr schliessen kann. Du hast nur geringe Kraft, und dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und meinen Namen nicht verleugnet. Offenbarung des Johannes, Kap. 3,7-8
Vor nicht langer Zeit war ich zum Jahresempfang der Bürgermeisterin im Charlottenburger Rathaus eingeladen. Dort wurde ein Jubiläum gefeiert und zugleich eine neue Städtepartnerschaft feierlich begonnen. Das hat mich inspiriert. Ich schlage vor, daß wir in diesem Jahr - im Jubiläumsjahr - eine Städtepartnerschaft eingehen zwischen Berlin-Charlottenburg und Philadelphia, der Stadt in der Johannesoffenbarung, und zwischen unserer Gemeinde und der Christengemeinde dort. Wir können diese Partnerschaft nur in Gedanken eingehen, in unserer Phantasie, denn diese Stadt an der Straße von Sardes nach Kolossä, im Gebiet der heutigen Türkei gelegen, gibt es so nicht mehr. Es war eine eher unbedeutende und kleine Stadt, die am Rande eines breiten fruchtbaren Tales lag und wo eine ertragreiche Landwirtschaft das Einkommen der Bevölkerung sicherte - wenn es keine Erdbeben gab, und die gab es recht häufig. Sie zerstörten die Stadt mehr als einmal und mehr als einmal wurde sie wieder aufgebaut, mit ihren vielen Tempeln und ihrer großen Synagoge, die es dort gab. Dagegen war die christliche Gemeinde am Ort zahlenmäßig klein und wirtschaftlich schwach. Aber in vieler Hinsicht war diese Gemeinde dennoch vorbildlich, so daß sie nicht nur in der Offenbarung des Johannes lobend erwähnt wird, sondern auch der Bischof Ignatius von Antiochien ihr wenig später in einem Brief ein gutes Zeugnis ausstellt.
So sehr hat diese kleine Gemeinde durch die Jahrhunderte Christen beeindruckt, daß immer wieder Gruppen innerhalb der Kirche sich den Namen geborgt haben: "Philadelphia". Auch die jüngere Geschichte unserer Gemeinde weiß darum. So sollte die vorgeschlagene Städtepartnerschaft allerdings nicht verstanden werden; sondern so, daß eine Gemeinde, die Erschütterungen und Glanzzeiten kennt, von einer anderen Gemeinde, die Erschütterungen und Glanzzeiten kennt, lernen kann.
Wir können nach 100 Jahren von der Gemeinde in Philadelphia lernen, daß wir um die Zukunft der Gemeinde nicht fürchten brauchen. Die Frage nach der "Zukunftsfähigkeit" von Gemeinden unserer Benennung ist auf dem diesjährigen Bundesrat der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Deutschland gestellt worden und wird sogar von Kommissionen behandelt. Man darf sie wohl auch stellen, wenn es dabei um die Frage nach zeitgemäßen Strukturen innerhalb von Gemeinden geht, jedoch nicht als grundsätzliche Frage nach dem Überleben der Gemeinde. Denn für letzteres trägt keine Kommission die Verantwortung und Sorge, sondern Christus selbst, der um das weiß, was seine Gemeinde ausmacht und ihr Mühe bereitet, und der Türen in die Zukunft öffnet.
"Siehe, ich habe vor dir eine Türe geöffnet ...". Jetzt schon gibt es Möglichkeiten, "Reich Gottes" zu erleben. Jetzt schon tun sich vor uns Türen auf. Nur - man muß den Mut haben, hindurch zu gehen. Die folgende Gemeindegeschichte kann auch so verstanden werden, nämlich als eine Geschichte von geöffneten Türen, von wahrgenommenen und an manchen Stellen vielleicht auch von verpaßten Gelegenheiten. Und auch die Gemeindegeschichte, die man fortschreiben wird, wenn die Gaeste nach der Geburtstagsfeier zum "100jährigen" abgereist sind, kann so verstanden werden - als eine Geschichte von sich öffnenden Türen. Wohlgemerkt: nicht die Gemeinde bricht sich mit Gewalt Türen in die Zukunft auf oder hat irgendwelche Schlüssel, welche die Zukunft öffnen. Keine evangelistischen Methoden schaffen das, keine Rezepte für moderne Gottesdienstgestaltung, kein soziales und politisches Engagement und keine einfühlsam inszenierte Anbetung. Diese Dinge mögen ihren Platz im Leben der Gemeinde haben, und sie schaffen uns vielleicht auch Zahlen aber keine Zukunft. Um Zahlen aber geht es nicht; sondern die kleine Gemeinde hat Zukunft, weil Christus die Tür in die Zukunft öffnet und den Weg weist.
Wir können weiterhin von den Christen in Philadelphia lernen, daß man in seiner Armut reicher sein kann, als man ahnt. Das Jubiläumsjahr könnte mit all den damit verbundenen Erinnerungen zu nostalgischem Schwelgen und möglicherweise auch zu pessimistischen Ausblicken führen. Sind die Glanzzeiten für diese Gemeinde nicht vorbei? Was stellen wir denn schon dar in der Hauptstadt? Eine Gemeinde auf dem zweiten Hinterhof, die seit Jahrzehnten kontinuierlich an Mitgliedern abgenommen hat. Aber da kann uns unsere Partnergemeinde in Philadelphia unterstützen. Denn von ihr können wir lernen, daß wir nicht unseren Möglichkeiten oder irgendwelchen Zahlen vertrauen, sondern dem Wort der Zukunft vertrauen, das Christus spricht. Und das ist ein lebendiges Wort und ein Wort, das lebendig macht, wo die Kraft klein ist oder nachläßt. "Du hast nur geringe Kraft, und hast doch an meinem Wort festgehalten ...". Klein an Zahl und finanziell schwach wäre es verständlich gewesen, wenn die Gemeinde in Philadelphia gesagt hätte: Die Welt ist groß und wir sind klein; darum hat es keine Bedeutung, was wir tun oder lassen. Man kann aus Angst oder Pessimismus offene Türen ignorieren oder zuschlagen. Aber die Gemeinde in Philadelphia ist dem Wort Jesu treu geblieben, dem Wort, das in die Zukunft weist und zu den Menschen. Durch sie können wir ermutigt werden, am Wort der Zusage Christi festzuhalten. Unsere "kleine Kraft" steht unter einer großen Verheißung. Und unser Glaube lebt vom Gehorsam gegenüber dieser Zusage. Unsere Gemeinde lebt nicht von unseren Erwartungen her, sondern vom Auftrag, von der Zusage und von der Erwartung Jesu Christi her. Jesus schickt seine Jünger zu Menschen, um seine Liebe weiterzugeben und ihn zu bezeugen, damit Menschen glauben.
Es lohnt sich treu zu sein und den langen Atem zu haben. Das ist etwas weiteres, was wir von den Christen in Philadelphia lernen können. Nach hundert Jahren Gemeindegeschichte darf man schon von Treue sprechen. Die Geschichte unserer Gemeinde, so wie sie auf den folgenden Seiten dargestellt wird, ist schließlich auch eine Geschichte des Ringens darum, was es heißt, dem Wort Gottes treu zu sein in der jeweiligen Situation. Dabei ist es keine Geschichte, die frei von Verirrungen ist. Christus sagt: Es lohnt sich, an meinem Wort festzuhalten und an der Gemeinde. Treue zum Wort Gottes ist nötig, weil es Orientierung gibt. Treue zur Gemeinde ist wichtig, weil unser Glaube Gemeinschaft braucht. Und Christus sagt seiner Gemeinde: Es ist geboten, daß ihr euren Platz in der Welt ausfüllt. Denn das Wort Jesu sendet in die Welt. Aus Treue zum Wort müssen wir unseren Platz in Berlin ausfüllen und in einer sich verändernden Umgebung immer wieder nach den Konkretionen unserer "Stellenbeschreibung" fragen. Und aus Treue zum Wort Jesu darf das Bleiben bei der Gemeinde nicht einfach zum Bleiben in der Gemeinde werden. Wir müssen hinaus, damit Menschen hineinkommen! Hinaus in die Richard-Wagner-Straße zu Straßenfesten, hinaus in die Altenheime und Krankenhäuser, in die Sitzungen im Rathaus, zu denen wir eingeladen werden oder an denen wir teilnehmen können, hinaus an die Orte, wo Menschen auf die lebensstiftende Kraft des Evangeliums angewiesen sind.
Christus sagt: Laßt euch nicht von der "Dynamik" anderer Mächte und Gruppen beeindrucken. Die jüdische Synagoge in Philadelphia war viel größer und einflußreicher als die Christengemeinde dort. Die heidnischen Tempel waren viel prächtiger als das Haus, in dem sie sich trafen. Es ist so leicht nach links und rechts zu schielen, um Orientierung zu gewinnen. Es ist so verführerisch, auf andere Kirchen und Gemeinden - besonders solche, die groß sind oder werden - zu sehen. Aber wir sollen auf Jesus sehen! Denn von ihm her haben wir einen Auftrag, den andere nicht ausrichten können. Dort wo wir sind - in Philadelphia und Berlin-Charlottenburg -, können nur wir in unserer eigenen Art die frohe Botschaft von seinem Kommen in die Welt weitersagen.
100 Jahre Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Berlin-Charlottenburg - unsere "Partnergemeinde" in Philadelphia kann uns daran erinnern, daß solch ein Jubiläum nicht nur Grund ist, zurückzuschauen und sich zu erinnern, sondern zugleich eine gute Gelegenheit ist, nach vorne zu sehen und Perspektiven zu gewinnen. Christus öffnet seiner Gemeinde Türen und hat es immer schon getan, auch wenn sie sich schon gar keine Zukunft mehr zutraut. Davon soll etwas in dieser Gemeindegeschichte deutlich werden - und davon, daß es sich lohnt, treu dem lebendigen WORT der Zukunft zu vertrauen.
Berlin im Oktober 1998 Dr. Frank Woggon, Pastor
Die Geschichte der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in Berlin-Charlottenburg beginnt genau genommen nicht im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, sondern im angelsächsischen Kulturkreis des beginnenden siebzehnten Jahrhunderts. In Europa und England war das siebzehnte Jahrhundert eine Zeit des Umbruchs. Der Westfälische Friede von 1648 markierte das Ende der Reformationszeit und läutete mit seiner begrenzten Anerkennung des Protestantismus eine neue Ära in der Geschichte des Christentums ein. Gewaltige Veränderungen fanden im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich statt - Veränderungen, die niemand vorhersagen, wenige beeinflussen und viele auch nicht verstehen konnten ...
Der weite Weg der Baptisten nach Berlin
Die Geschichte der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in Berlin-Charlottenburg beginnt genau genommen nicht im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, sondern im angelsächsischen Kulturkreis des beginnenden siebzehnten Jahrhunderts. In Europa und England war das siebzehnte Jahrhundert eine Zeit des Umbruchs. Der Westfälische Friede von 1648 markierte das Ende der Reformationszeit und läutete mit seiner begrenzten Anerkennung des Protestantismus eine neue Ära in der Geschichte des Christentums ein. Gewaltige Veränderungen fanden im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich statt - Veränderungen, die niemand vorhersagen, wenige beeinflussen und viele auch nicht verstehen konnten. In dieser ungewissen und aufgewühlten Zeit entstanden die Baptisten als eigenständige Denomination. Die ersten Baptistengemeinden bildeten sich im frühen siebzehnten Jahrhundert in England und Holland. Sie erwuchsen aus intensiven Reformationsbestrebungen, die von solch radikalen Bewegungen wie dem Puritanismus, dem Separatismus und wahrscheinlich dem Täufertum beeinflußt waren, aber auch durch die Theologie der schweizer Reformatoren Huldreich Zwingli und Johannes Calvin. Wurde in manchen Gruppen, die sich von der Kirche Englands trennten, zunächst die Form der Säuglingstaufe für glaubende Menschen übernommen, ging man bald dazu über, durch vollständiges Untertauchen zu taufen. Diese Praxis bescherte den jungen Gemeinden den Spitz- oder Schimpfnamen "Baptisten".
Als eine Gemeinschaft, die in England bis 1689 selbst verfolgt wurde, traten Baptisten energisch für Gewissens- und Religionsfreiheit ein. Nicht wenige der "separatistischen" Kritiker der Kirche Englands sahen es aber Anfang des siebzehnten Jahrhunderts als sicherer an, das Land zu verlassen. So auch der ehemalige anglikanische Geistliche Roger Williams. Er nahm 1630 die Berufung einer unabhängigen Gemeinde in der Nähe von Boston, Neu-England an, aus der heraus er 1639 die erste Baptistengemeinde in der "Neuen Welt" gründete. Unabhängig von dieser Gemeindegründung bildeten sich bald weitere Baptistengemeinden in Neu-England. Da nicht wenige der Siedler aus Europa Baptisten waren, wurden dann auch im Zuge der Besiedlung des Mittleren Westens und Südens im kolonialen Amerika Baptistengemeinden gegründet. Von den kleinen Anfängen in Boston an sind die Baptisten in Nordamerika in weniger als vier Jahrhunderten zur größten protestantischen Denomination angewachsen. Von Anfang an legten sie Wert auf das Bildungswesen und bauten eigene Schulen und Universitäten auf, die zum Teil noch heute bestehen und einen guten Ruf genießen. Unter ihnen ist das Hamilton College im Staate New York, das heute noch unter anderem Namen als theologische Hochschule in Rochester angesiedelt ist.
An diesem College unterrichtete Barnas Sears, der sich nicht nur als Professor in Nordamerika einen Namen machte, sondern auch in Deutschland einer Bewegung zum Start verhelfen würde, die weit über die Grenzen Deutschlands hinausreichen sollte. Während einer Studienreise nach Europa taufte er in der Elbe bei Hamburg am 22. April 1834 sieben Männer und Frauen, die daraufhin eine Gemeinde gläubig getaufter Christen bildeten, welche gern als erste Baptistengemeinde auf dem europäischen Kontinent bezeichnet wird. Streng genommen kommt dieser Titel allerdings der kleinen Schar um John Smyth und Thomas Helwys zu, die sich 1609 in Amsterdam als Gemeinde aufgrund der Gläubigentaufe konstituierten, und zwei Jahre später nach einigen internen Spannungen und einer Trennung nach England zurückkehrten.
Wie dem auch sei, der Anfang des kontinental-europäischen Baptismus war im Jahre 1834 mit sieben Menschen gemacht, unter ihnen auch Johann Gerhard Oncken, der in dem ersten Gottesdienst der jungen Gemeinde von Barnas Sears zu ihrem "Prediger und Pastor" ordiniert wurde. Mehr als vier Jahrzehnte sollte er die Gemeinde in Hamburg leiten und prägte bis wenige Jahre vor seinem Tod 1884 maßgeblich den deutschen Baptismus. Von Hamburg aus bereiste er Deutschland und die meisten Länder Europas, predigte und unterrichtete, wo auch immer er hinkam, gründete Gemeinden und organisierte die Mission. So gab es bereits im Revolutionsjahr 1848 in Deutschland fünfundzwanzig Baptistengemeinden und fünf von Deutschland aus gegründete Gemeinden in Dänemark.
Drei Jahre nach der denkwürdigen Taufe in der Elbe wurden von Oncken im Rummelsburger See vor den Toren Berlins am 13. Mai 1837, dem Sonnabend vor dem Pfingstfest, sechs Männer und Frauen getauft. Sie gründeten im Pfingstgottesdienst am folgenden Tag die erste Baptistengemeinde in Berlin. Ihr Vorsteher war der Kupferstecher Gottfried Wilhelm Lehmann, in dessen Wohnung auch die Versammlungen der Gemeinde abgehalten wurden, deren Besuch aber bald so anwuchs, daß die Gemeinde einen Raum in der Scharrenstraße in Berlin-Mitte anmietete. Baupläne für eine eigene Kapelle wurden von der Baupolizei nicht genehmigt, da Baptisten zu dieser Zeit keinerlei rechtliche Anerkennung besaßen. Da kam die Gemeinde auf die Idee, ein "Wohnhaus für Herrn Lehmann" zu bauen. Es sollte im obersten Stock einen großen Raum erhalten, der als Versammlungssaal dienen konnte. Die Baupläne für dieses Projekt wurden ohne weiteres genehmigt, und so konnte der Bau in der Schmidstraße im Südosten Berlins beginnen.
Die Revolution von 1848 brachte Gewalt und Blutvergießen, aber auch das Recht auf Versammlungsfreiheit. Am 18. März 1848, nur acht Tage nach Ausbruch der Aufstände, fand die erste unangemeldete Versammlung in der "neuen Kapelle" statt. In den folgenden Jahren wuchs die Zahl der Gemeindemitglieder beträchtlich. Die als Wohnhaus konzipierte Kapelle erwies sich bald als unzureichend, zumal sie auch keine Gelegenheit zum Taufen bot. Die Taufen wurden immer noch - zumeist nachts - im Freien durchgeführt. So entschloß sich die Gemeinde, das Wohnhaus zu erweitern und eine ihren Zwecken genügende Kapelle zu bauen. Diese wurde am 10. November 1861 mit der ersten öffentlichen Taufe von gläubig gewordenen Menschen in Berlin eingeweiht. Zu dieser Einweihung hatten der Magistrat und die Stadtverordneten Abordnungen entsandt, die in ihren Amtstrachten erschienen und damit vermuten ließen, daß die Behörde wohlwollend an dem Gedeihen dieser Gemeinde interessiert war. Das Gedeihen blieb tatsächlich nicht aus, und auch nach fünfundzwanzigjährigem Bestehen wuchs die Gemeinde in der neuen Kapelle rasch zahlenmäßig weiter, so daß sogenannte Stationsgemeinden in anderen Stadtteilen gegründet wurden. Südlich der Spree und westlich der Havel gehörten die Stationen Charlottenburg, Steglitz, Mariendorf, Rixdorf-Neukölln und Spandau, sowie einige Stationen außerhalb Berlins zur "Ersten Baptistengemeinde zu Berlin" in der Schmidstraße in "Berlin SO".
Anfänge im Charlottenburger Kiez 1888 bis 1909
Durch die Initiative von vier Mitgliedern der Baptistengemeinde in der Schmidstraße - dem Ehepaar Gabriel, Auguste Schindler und einer "Schwester Haß", die im ersten Mitgliederverzeichnis allerdings nicht mehr erwähnt wird - entsteht im Jahr 1888 die Stationsgemeinde Charlottenburg, die im ersten Jahr ihres Bestehens auf siebzehn Mitglieder anwächst. Für eine Monatsmiete von 10,- Mark mieten sie in der Potsdamer Straße 10, heute Seelingstraße 28, ein Zimmer, in denen die Versammlungen der Gemeinde stattfinden. Nur zwei Jahre später zieht man aber schon in ein größeres Zimmer um, allerdings nur einige Häuser weiter in die Potsdamer Straße 3. Die Gottesdienste finden am Sonntagnachmittag um 16 Uhr statt, wohl weil ein Teil der Mitglieder morgens auch am Gottesdienst der Hauptgemeinde in der Schmidstraße teilnehmen will. Mittwoch abends um 20 Uhr trifft man sich regelmäßig zur sogenannten "Gebetsstunde", in der ein Bibeltext ausgelegt wird und zu frei gesprochenen Gebeten der Anwesenden Gelegenheit ist. Ein Chor wird 1891 noch unter der damals üblichen Bezeichnung "Gesang-Verein" gebildet, was auch die Tatsache erklärt, daß der heutige Gemeindechor bereits 1991 sein hundertjähriges Jubiläum feierte.
Man versteht sich in der Potsdamer Straße in Charlottenburg als Gemeinde im urchristlichen Sinne, die nicht zuletzt von der Qualität ihrer Gemeinschaft lebt. Daß die kleine Stationsgemeinde in Charlottenburg allerdings keine "geschlossene Gesellschaft" ist, die von der Außenwelt abgeschottet nur für sich existiert, wird deutlich daran, daß der Versammlungsraum in der Potsdamer Straße bald zu klein für die wachsende Gemeinde ist. Aus Ostpreußen - wo Johann Gerhard Oncken bereits 1841 in Memel eine Gemeinde gründete - ziehen Baptisten nach Berlin zu und werden in Charlottenburg herzlich aufgenommen, so daß sie sich gerne in der neu gefundenen Gemeinde engagieren. Aus Platzmangel wird ein weiterer Umzug in größere Räumlichkeiten absehbar. Zunächst findet die Gemeinde eine neue Heimat in der Spandauer Straße.
1896 zieht man dann in die Schillerstraße 41, wo schließlich die selbständige Baptistengemeinde Berlin-Charlottenburg ihren ersten Versammlungsort finden soll. Im Oktober 1898 wird die Station in Charlottenburg als Gemeinde mit 51 Mitgliedern von der Muttergemeinde Berlin-Schmidstraße in die Selbständigkeit entlassen. Den Prediger und Ältesten, Benjamin Schilling, muß sich die Gemeinde allerdings noch vier Jahre lang mit der Baptistengemeinde "Bethania" in "Berlin NW" (Moabit) teilen, die als Stationsgemeinde der Baptistengemeinde in der Gubener Straße gegründet wurde. Neben dem Prediger sind im sogenan¬nten Vorstand der Gemeinde ferner Heinrich Pätz, David Raschke, Wilhelm Granzow und Herrmann Miske mit Leitungsaufgaben betraut. Im Zentrum des Lebens der Gemeinde stehen die Sonntagsversammlungen, die sich allerdings nicht in einem einstündigen Gottesdienst am Vormittag erschöpfen. Gottesdienste finden sowohl am Sonntagmorgen um 9.30 Uhr als auch am Sonntagnachmittag um 16.00 Uhr statt. Im Anschluß an den Vormittagsgottesdienst bemüht man sich dann um die religiöse Erziehung der Kinder in der "Sonntagschule", die allerdings in den ersten Jahren, so klagt man, an zu geringer Beteiligung leidet. Am späten Nachmittag, nach dem zweiten Gottesdienst, trifft sich schließlich noch die Jugendgruppe.
Wie auch schon während ihrer Zeit als Stationsgemeinde ist die Frage nach den Versammlungsräumlichkeiten ständiger Gesprächsstoff unter den Gemeindemitgliedern, war doch jeder Umzug mehr Veränderung als Verbesserung. So liegt der Gemeindesaal in der Schillerstraße 41 über einem Kuhstall, und nicht nur zu den Gottesdiensten am Heiligen Abend brüllen die Kühe so laut, daß die Predigt nicht selten eine unerwünschte Begleitmelodie erhält. Der Prediger Benjamin Schilling beklagt im Jahresbericht der Gemeinde von 1901: "Unser dürftiges Lokal, das lange schon unserer Mission ein trauriger Hemmschuh ist, gestattet leider nicht, daß die Vereine zu einer mehr erwünschten Kraftentfaltung kommen. Es ist bekannt, daß die Gemeinde den Prediger und Vorstand beauftragt hat mit allem Ernste, auf dem sich nur bietenden Wege, an die Beschaffung eines geeigneten Lokals heran zu gehen." Nach einem Umzug in das Nachbarhaus Schillerstraße 42 im Jahr 1902 stehen zwar mehr Versammlungsraum und eine Wohnung, die weitervermietet wird, zur Verfügung, und die Lieder, Gebete und Predigt können ohne unerwünschte tierische Nebentöne erklingen; aber auch hier ist die Lage alles andere als ideal. Über den Versammlungsräumen befinden sich Festsäle, die von der tanzlustigen Bevölkerung des Charlottenburger Kiezes häufig benutzt wurden. In der "Geschichte der Baptistengemeinde Charlottenburg", die zum fünfzigjährigen Bestehen herausgegeben wurde, heißt es: "Während um die Erweckung neuer Seelen gerungen wurde, schwankte die Decke unter den Tanzschritten, kostümierte Masken kamen die Treppe herunter, die die Menschen der anderen Welt belustigt betrachteten."
Wohl nicht zuletzt wegen der Kompromisse, die man immer wieder im Blick auf geeignete Räumlichkeiten machen muß, wird 1904 eine "Kapellenbaukasse" eingerichtet, damit in nicht allzu ferner Zukunft endlich ein Umzug in ein eigenes Gebäude möglich wird. Dieser Traum soll allerdings erst nach sechzehn Jahren Wirklichkeit werden. Die Einrichtung des Baufonds ist innerhalb der Gemeinde nicht unumstritten, gibt es doch immer wieder in den Anfangsjahren finanzielle Engpässe, weil die Spendenfreudigkeit einzelner Mitglieder der Gemeinde - wie die in den Jahresberichten veröffentlichten Listen der Beiträge zeigen - geringer als erwartet ist. Trotz mancher Anfangsschwierigkeiten wächst die Gemeinde, so daß sie im Jahre 1905, als die Kündigung ihres ersten Predigers erfolgt, bereits 269 Mitglieder zählt. Davon gehören allerdings 81 zu den Stationsgemeinden Brandenburg und Potsdam. Da die Gemeinde selbst als Stationsarbeit entstanden ist, schien es nur natürlich, daß sie, als sich die Gelegenheit im Jahr 1900 bot, die Stationsgemeinde Brandenburg von der Baptistengemeinde in der Gubener Straße in Friedrichshain übernahm. Ende desselben Jahres gründete man in Potsdam eine weitere Station mit 15 Mitgliedern, die langsam aber stetig wuchs. Eine weitere Übernahme einer Station der Gemeinde Steglitz in Wilmersdorf im Jahr 1902 und die Gründung der Stationsgemeinde Nowawes mit 18 Mitgliedern machte aus der vor kurzem selbstständig gewordenen Tochtergemeinde bald schon eine Muttergemeinde, die an vier Stationen ihre Mission unternahm.
Dem Wachstum der Gemeinde förderlich ist auch die evangelistische Arbeit des neuen Predigers, Johannes Rehr, der im Januar 1906 seinen Dienst antritt. Noch im selben Jahr werden 43 Menschen durch Taufe in die Gemeinde aufgenommen. Im nächsten Jahr sind es 41 Personen. Auch die Sonntagschule, die in den ersten Jahren über zu geringe Beteiligung klagte, wird mehr und mehr zu einem der wesentlichen Arbeitszweige des Gemeindeaufbaus. Im Jahr 1907 besuchen durchschnittlich 125 Kinder die "Sonntagschul-Stunden" nach dem Vormittagsgottesdienst. Neben den traditionellen Formen der Evangelisation werden aber auch durchaus innovative Möglichkeiten angedacht und eingeführt. So beginnt die Gemeinde 1905 eine Öffentlichkeitsarbeit, indem sie Anzeigen über ihre Versammlungen am Sonntag in den Berliner Zeitungen erscheinen läßt. Den Standort im Charlottenburger Kiez mit seinen Hinterhöfen beginnt man im Jahre 1908 nicht nur als manchmal beklagte Gegebenheit zu sehen, sondern auch als besondere Möglichkeit: die missionarische Arbeit des "Hofsingens" wird begonnen. Im selben Jahr wird für die Stationsgemeinde Potsdam "Bruder Paasche", frischer Absolvent des Predigerseminars in Hamburg-Horn, als Prediger angestellt, der hauptsächlich in der neu begonnenen Soldatenmission tätig werden soll.
Veränderungen gibt es nach dem ersten Predigerwechsel in Charlottenburg auch in Bezug auf die Leitungsstruktur. Vereinte Benjamin Schilling noch die Ämter des Predigers und Ältesten der Gemeinde in Personalunion, so ging man mit dem Dienstbeginn von Johannes Rehr dazu über, diese Ämter voneinander zu trennen. Die "Entwicklungen drängten zur Arbeitsteilung und zur demokratischen Leitung der Gemeinde", so heißt es als Fazit dazu in der "Geschichte der Baptistengemeinde Charlottenburg", die zum 50jährigen Jubiläum herausgegeben wurde (S. 7) . Zwischen den Zeilen hört man heraus, daß die Vereinigung der beiden Ämter in der Person des ersten Predigers der Gemeinde nicht nur nützlich war. Im Jahre 1905 wird "Bruder Grundke" als Ältester der Gemeinde berufen. Er übt sein Amt aber nur für kurze Zeit aus, da er drei Jahre später aus beruflichen Gründen Berlin verlassen muß. Sein Nachfolger, August Reck, wird erst 1910 berufen und nimmt die Aufgaben des Ältestenamtes sechsundzwanzig Jahre lang bis zu seinem Tod 1937 wahr.
Eines der herausragenden Ereignisse am Ende des ersten Jahrzehnts des Bestehens der Gemeinde ist der erste Kongreß der europäischen Baptisten, der vom 29. August bis zum 3. September 1908 in Berlin stattfindet und von den Berliner Gemeinden organisiert wird. Wenn auch die Planung dieses Kongresses im Vorfeld von kritischen Fragen begleitet ist, bezüglich "eitler Ziele", die sich dahinter verbergen könnten, so läßt doch die Erfahrung während der Kongreßtage all diese Bedenken wegfallen. Die Begegnung mit anderen Mitgliedern aus Baptistengemeinden jenseits der Grenzen Deutschlands wird zu einem mutmachenden Ereignis für Christen, die sich von Staat und Kirche oft in eine "zweite Klasse des Bürgertums" hineingedrängt und übersehen fühlen. Auch wenn die Freikirchen ansonsten zumeist ignoriert werden, kann man die Präsenz der Baptistengemeinden in Berlin in diesen Tagen nicht übersehen. Tausende strömen täglich zu den Veranstaltungsorten, und die Öffentlichkeit nimmt Notiz, auch wenn man vergeblich auf offizielle Grußworte der Kirchenleitungen und Stadtvertretung wartet. Fast täglich wird in Zeitungen von dem Kongreß berichtet. Am Sonntag, den 30. August, finden Veranstaltungen auch in der Schillerstraße 42 statt. Deutsche und internationale Gaeste predigen und geben Berichte aus ihren Gemeinden. "Das war wahrlich ein Tag voll Sonnenschein," schreibt Johannes Rehr in seinem Bericht, "ein Tag der köstlichsten Gemeinschaft, des Lobens und Dankens, ein Tag neuer Beugung und Hingabe" (Offizieller Bericht über den 1. Kongreß der europäischen Baptisten, 64).
Konsolidierung in Kriegszeiten 1910 bis 1919
Zu Anfang des zweiten Jahrzehnts ihres Bestehens bahnen sich für die Gemeinde einige Veränderungen an. 1910 findet einmal mehr ein Umzug statt, und zwar in die neue "Missionskapelle", Krummestraße 28. Die neuen Räumlichkeiten scheinen gute Entwicklungen im Gemeindeleben einzuleiten: die Gottesdienste werden "viel besser besucht, die Mitglieder erkannten mehr ihre großen Aufgaben in dieser Stadt, die Sonntagschule nahm einen besonderen Aufschwung" (Jahresbericht 1910). Im selben Jahr entläßt die Gemeinde drei ihrer Stationsgemeinden in die Unabhängigkeit: die Stationen Potsdam, Brandenburg und Nowawes konstituieren sich mit 119 Mitgliedern als Baptistengemeinde Potsdam. In der Stammgemeinde und der Stationsgemeinde Wilmersdorf bleiben insgesamt 300 Mitglieder. Johannes Rehr hat die Kanzel in der neuen Missionskapelle nur ein Jahr besetzen können. Im Jahr 1911 nimmt er nach fünf Jahren Abschied von der Gemeinde, um im Auftrag des Bundes der Baptistengemeinden als "Sekretär des Jünglingsbundes" zu arbeiten.
Als sein Nachfolger beginnt Otto Muske schon im April 1911 seine Arbeit als Prediger der Gemeinde, so daß die kontinuierliche Entwicklung im Gemeindeleben nicht durch eine längere predigerlose Zeit unterbrochen wird. Die kommenden beiden Jahre muten angesichts der "stillen, aber stetigen Entwicklung nach innen und außen" an, wie die Ruhe vor dem Sturm. In der Tauroggener Straße im Norden Charlottenburgs wird 1912 eine Stationsgemeinde unter der Leitung von H. Szagunn gegründet. Eine Evangelisation im Folgejahr ist nicht zuletzt ein Grund dafür, daß 66 Menschen in die Gemeinde aufgenommen werden, so daß am Ende des Jahres 1913 bereits 374 Mitglieder gezählt werden. Besondere Erwähhung findet in diesem Jahr in den Protokollen auch die finanzielle Situation der Gemeinde, die trotz der ungünstigen Wirtschaftslage positiv bewertet wird. Steigende Gesamteinnahmen gegenüber dem Vorjahr und eine besonders erfreuliche Entwicklung des Kapellenbaufonds, der am Jahresende 17.411,- Mark aufweist, lassen hoffnungsvoll in die Zukunft schauen. Im kommenden Jahr werden jedoch die ruhigen und positiven Entwicklungen im Gemeindeleben durch die politischen Ereignisse erschüttert. Die Julikrise von 1914 und der von Berlin aus geförderte Konflikt Österreich-Ungarns mit Serbien stürzt das kaiserliche Deutschland in einen Krieg von bisher nicht gekannter Ausdehnung und Heftigkeit. In der Gemeinde scheinen zunächst die kaisertreuen und dem Vaterland verbundenen Stimmen die Klage zu übertönen. So heißt es im Rückblick des Jahresberichts von 1914:
"Noch nie seit ihrem Bestehen ist die Gemeinde durch eine so ernste, schwere und doch dabei so große Zeit hindurchgegangen wie im verflossenen Jahr. Gewaltige, weltgeschichtliche Ereignisse sind ihren Weg gegangen und haben auch unser Häuflein anteilnehmen lassen an ihrem Sturmläuten und dröhnendem Donnerklang! Krieg! Wer hätte gerade jetzt daran gedacht? Noch war die friedliche Ferienstimmung nicht vom Gemeindebilde geschwunden, in der Welt war's still - da! ein greller Blitzstrahl, der jäh die ahnungslose Welt in unlöschbaren Brand versetzte. Rings von neidischen Feinden umgeben, sah sich unser Friedenskaiser mit schwerem Herzen gezwungen, das Schwert zu ziehen, das 44 Jahre in der Scheide ruhte. Wie wurden unsere Herzen mitgerissen von der glühenden Begeisterung jener ersten Mobilmachungstage! Wie stand in edler Ritterlichkeit unser oberster Kriegsherr als leuchtendes Vorbild da, auf Gottes Hilfe vertrauend und sein Volk zum Gebet und zur Buße rufend. Und während sich alles zu den Fahnen drängte, zahlte auch unsere kleine Gemeinde dem König willig ihren Tribut. Unvergeßlich wird allen Teilnehmern jener 1. Augustsonntag sein, an dem nach der Feier des Herrenmahls eine ganze Schar lieber Brüder die Plattform füllte, um von der Gemeinde - vielleicht für immer! - Abschied zu neh¬men. Unter heißen Gebeten und Singen des Liedes: 'Gott mit euch, bis wir uns wiedersehn" wurden sie entlassen."
In sogenannten "Kriegsgebetsstunden" hört man Berichte "aus dem Felde" und weint, betet und hofft gemeinsam. Auch in die Gemeindeversammlungen dringt der militärische Charakter der Zeit, wenn der Älteste August Reck und der Gemeindesekretär A. Felsburg in ihren Uniformen ihres Amtes walten. Die ganze Härte des Krieges wird der Gemeinde bewußt, als verwundete Mitglieder zur Genesung auf Heimaturlaub nach Berlin kommen, verjagte Flüchtlinge aus dem Osten bei Verwandten in der Gemeinde Zuflucht suchen und Meldungen über in Gefangenschaft geratene Gemeindemitglieder und erste Todes¬nachrichten eintreffen. Bereits im Oktober fällt als erster Franz Uszkoreit, der Mitglied in der Stationsgemeinde Wilmersdorf war. Nicht lange danach trifft die Nachricht ein, daß Carl Brandauer, Dirigent des Männerchores und des Stationschors in der Tauroggener Straße, bei einem Sturmangriff umkam. Nach und nach werden etwa hundert Mitglieder und Freunde der Gemeinde - darunter auch der Prediger, der allerdings in Berlin stationiert bleibt - zum Heeresdienst eingezogen. Fast wie eine Ironie der Zeit scheint es, daß man im Jahr des Kriegsausbruchs und angesichts der Unterstützung der militärischen Mobilmachung in Deutschland einen neuen Anlauf in der sogenannten "Friedensboten"-Mission unternimmt, die als Traktatmission nach dem gleichnamigen Verteilblatt benannt ist. Auch wenn die Arbeit in der Gemeinde aufgrund der Kriegsgeschehnisse beeinträchtigt und gestört wird, bleiben die Aufgaben in den verschiedenen Gruppen nicht liegen. Neben den tragischen Verlusten meist junger Männer, die zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sind, gibt es nicht zuletzt aufgrund der weitergeführten missionarischen Aktivitäten auch Neuaufnahmen in die Gemeinde. Im Jahre 1915 sind es siebenundzwanzig, was die Mitgliederzahl auf 394 erhöht. Im Jahre 1916, welches das "Jahr der Kohlrübenstullen" genannt wird, schicken die Frauen hunderte von Paketen mit Strümpfen, Leibbinden, Ohrenschützern und Pulswärmern an die Front. Bücher, Zeitschriften und Schreibpapier werden gespendet und an die Soldaten im Feld verschickt. Dabei machen sich die Auswirkungen des Krieges durchaus auch in Berlin bemerkbar. Die Lebensmittelknappheit hat verheerende Folgen im Leben mancher Familien der Gemeinde. Und auch in den Gottesdiensten spürt man nicht nur an den leeren Plätzen oder beim Anblick der Uniformen den Geist der Zeit: das Abendmahlsbrot wird zugeteilt und der Abendmahlswein wird allmählich so gestreckt, daß vom "Gewächs des Weinstocks" schließlich nur noch die Farbe übrig bleibt. Gold und Goldstücke wandern zur Reichsbank, und in den Sammelstellen verschwinden die letzten Messingbeschläge, Türklinken und Kupferkessel.
Fast wie ein Wunder scheint es, daß man ausgerechnet in dieser Zeit allgemeiner Entbehrung zu Grundbesitz kommt. Ein langjähriges Mitglied, Heinrich Thies, hatte seit längerer Zeit den Wunsch, seine Grundstücke in der Kirschenallee 20 in Westend der Gemeinde in Charlottenburg zu übereignen. Die Verhandlungen darüber werden aber durch seinen Tod unterbrochen, worauf seine Tochter Ida Thies sie weiterführt und im Oktober 1917 zu einem Abschluß bringt. Unter sehr günstigen Bedingungen wird die Gemeinde so zur Eigentümerin von Grundstücken, von denen man im Jahresbericht 1917 liest, daß daraus eine "rechte Pflanzstätte göttlicher Liebeswerke" werden möge. Man ahnt noch nicht, daß dieses Erbe die Gemeinde einmal fast ein Jahrzehnt lang beschäftigen und in ausgiebige Diskussionen führen wird. Endlich kommt der Krieg, dessen Härte und Dauer alle Annahmen, Vorbereitungen und Erwartungen übertroffen haben, 1918 zu einem Ende. So enthusiastisch, wie man vor vier Jahren die Mobilmachung begrüßte, heißt man nun die Heimkehrenden willkommen. Am 15. Dezember feiert man in der festlich geschmückten Kapelle mit den aus dem Krieg zurückgekommenen Mitgliedern Wiedersehen und gedenkt der zwölf Gefallenen bzw. Vermißten. Die Freude über das Ende des Krieges wird allerdings durch das Abdanken des Kaisers und den politischen Umsturz getrübt. Die Ausrufung der Republik in Weimar läßt unter den Gemeindemitgliedern viel Unsicherheit und Unruhe entstehen, fühlt man sich doch mehrheitlich der Monarchie verpflichtet, für die mancher der eingezogenen jungen Männer der Gemeinde "den Opfertod" gestorben ist. Den Kaiser erkannte man an als einen Herrscher, der "der göttlichen Wahrheit zugeneigt war", während man sich - nicht zuletzt bedingt auch durch die "Kirchenfeindschaft" der Linken - nun in Distanz setzt zur neuen Republik als einem "Staat ohne Grundsätze" mit einer "Verfassung ohne Gott".
Eine Anzahl von Mitgliedern zieht, nicht zuletzt wegen der andauernden Lebensmittelknappheit, aufs Land, so daß sich der Mitgliederbestand im Jahr des Kriegsendes von 378 auf 369 verringert. Trotzdem bringt das Folgejahr einen Aufschwung im Gemeindeleben - zwar nicht in Zahlen, wohl aber im Selbstbewußtsein: der Besuch der Gemeindeversammlungen nimmt wieder zu und einige der regelmäßigen Besucher der Gemeinde schließen sich ihr verbindlich an. Auch finanziell geht es aufwärts. Der Kapellenbaufonds ist in kürzester Zeit auf 46.485,- Mark angewachsen. "Bruder Schirrmacher", ein langjähriges Mitglied und sogenannter "Beisitzer" im Vorstand der Gemeinde, wird beauftragt, ein für die Gemeinde günstiges Kapellengrundstück zu ermitteln. Seine Bemühungen sollen schon bald Erfolg zeigen.
In eigenen Mauern 1920 bis 1929
Im Jahre 1920 erwirbt die Gemeinde das Grundstück Bismarckstraße 40, das im Herzen von Charlottenburg an einer der Prachtstraßen des Berliner Westens gelegen ist. Der Kaufpreis für die Wohngebäude und die im zweiten Hinterhof gelegene Kapelle beträgt rund eine halbe Million Mark, was zunächst erschreckt, dann aber bald angesichts der sich bietenden Chance, in eigenen Mauern die Gemeindearbeit fortzusetzen, zu allgemeiner Begeisterung und Opferbereitschaft führt.
Die Kapelle mitsamt der Wohngebäude war im Jahre 1898 auf dem damaligen Grundstück Bismarckstraße 35 von einem Herrn Ludwig Rennow gebaut worden, einem Mitglied der Katholisch-apostolischen Gemeinde, der die Kapelle auch an diese vermietete. Manche ältere Veröffentlichungen der Baptistengemeinde Berlin-Charlottenburg geben irrtümlicherweise die Neuapostolische Gemeinde als Erbauer an. Nachdem Herr Rennow das Grundstück 1907 an einen Herrn Friedrich Böttger verkaufte, wurde die Miete so angehoben, daß sie für die Katholisch-apostolische Gemeinde finanziell nicht mehr tragbar war. Daraufhin vermietete der neue Besitzer die Kapelle zunächst von 1908 bis 1918 an eine Gruppe der jüdischen Gemeinde, der sie als Synagoge diente, während Herr Rennow für die Katholisch-apostolische Gemeinde in der Goethestraße 26, Ecke Weimarer Straße eine neue Kapelle bauen ließ.
Später wurde die Pfingstgemeinde "Eben Ezer" Mieter in der Bismarckstraße 40, die zur Zeit des Erwerbs durch die Baptistengemeinde Charlottenburg noch einen laufenden Mietvertrag für die Kapelle hat.
So muß man sich zunächst noch in Geduld üben, bis mit dem notwendigen Umbau im Juli 1921 begonnen werden kann: die drei Emporen werden neu aufgebaut, eine "elektrische Lichtanlage" geschaffen, das Taufbecken mit anliegenden Umkleideräumen eingebaut, die Mauern trockengelegt und der Neuanstrich fertiggestellt. Auch wird beschlossen, den Bau einer Orgel in Auftrag zu geben. Diese kann allerdings erst im Februar 1923 in Betrieb genommen werden, und auch nur mit gedämpfter Freude, da ihr Bau bis dahin mehr als das Doppelte der ursprünglich dafür geplanten Kosten von 30.000,- Mark verschlungen hat.
Am 2. Oktober 1921 findet aber bereits die lang ersehnte Einweihung der "Friedenskapelle" statt, die diese Bezeichnung durch einstimmigen Gemeindebeschluß erhielt. Es können rund eintausend Anwesende zu dieser Feierlichkeit begrüßt werden, welche sich in der und um die neue Kapelle drängen, die "nur" 700 Sitzplätze hat. Dies soll allerdings in diesem Jahr nicht das einzige Fest im neuen Haus bleiben. In zwei Taufgottesdiensten, bei denen insgesamt 47 Menschen in die Gemeinde aufgenommen werden, kann das neu angelegte Taufbecken praktisch erprobt werden. Die Gemeindearbeit scheint am neuen Standort zu florieren, obwohl manche Entwicklungen und Veränderungen anderes vermuten ließen. Trotz der Tatsache, daß in den Jahren 1922 bis 1927 einige der langjährigen, ehrenamtlichen Mitarbeiter der Gemeinde in leitenden Funktionen ihre Ämter der nachfolgenden Generation zur Verfügung stellen, bleibt Kontinuität im Gemeindeleben gewahrt. Auch die Inflation, die im Jahre 1923 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, wirkt sich nicht nachteilig auf die wirtschaftliche Lage der Gemeinde aus. Im Gegenteil - in diesem Jahr können sogar Belastungen getilgt werden, die vor der Inflation fast 70.000,- Mark betrugen.
So steht das 25-jährige Gemeindejubiläum unter durchaus positivem Vorzeichen. "In reich gesegneten Festversammlungen", schreibt Otto Muske in Erinnerung an das Jubiläum, "gedachten wir der Güte des Herrn, der uns wie auf Adlers Flügeln getragen, der uns aus kleinen Anfängen in ruhiger Entwicklung erstarken ließ, der uns solch wertvolles eigenes Heim geschenkt und uns viele Möglichkeiten zu einer kraftvollen Entfaltung gegeben hat." In den 25 Jahren ihres Bestehens ist die Gemeinde von 51 Mitgliedern auf 494 Mitglieder angewachsen.
Es wäre allerdings ein Vortäuschen falscher Tatsachen, würde man dieses Wachstum ausschließlich dem missionarischen Eifer der Charlottenburger Baptisten zuschreiben. Immer wieder ist es vorgekommen, daß sich Gruppen aus anderen Baptistengemeinden oder kleineren Gemeinschaften der Baptistengemeinde in Charlottenburg anschließen wollten. So erklärt es sich auch, daß in den Statistiken der ersten Jahrzehnte die Zahl der Aufnahmen "durch Zeugnis" zum Teil die Zahl der Aufnahmen "durch Taufe" weit übersteigt. Im Jahr 1924 wird auf eigenen Wunsch hin eine "Missionsgemeinde" in der Düsseldorfer Straße als weitere Stationsgemeinde in Wilmersdorf übernommen, die sich aber bereits nach drei Jahren schon wieder aufgrund unterschiedlicher Lehrüberzeugungen trennt. Auch schließen sich im folgenden Jahr eine Anzahl Mitglieder der Baptistengemeinde "Bethania", Berlin-Moabit, in Charlottenburg an, sowie 32 getaufte Mitglieder der "Gemeinschaft Lützowstraße 93", die als neue Station anerkannt wird. Allerdings währt die neue Zusammenarbeit mit der letztgenannten Gruppe nicht lange, da bereits im selben Jahr ein früherer Prediger der Gemeinschaft zurückkehrt und in der jungen Stationsgemeinde in einer Weise tätig wird, daß eine einvernehmliche Arbeit nicht mehr gewährleistet scheint.
Neben allen positiven Entwicklungen im Gemeindeleben dieser Jahre gibt es allerdings auch interne Schwierigkeiten, die nicht verschwiegen werden. Äußeres Wachstum läßt nicht immer auf uneingeschränkte, innere Gesundheit schließen. Schließlich kann man auch annehmen, daß die Kauf- und Umbauphase mit ihren schwerwiegenden Entscheidungen nicht ohne Spannungen verlaufen ist, auch wenn es im Jahresbericht von 1920/21 heißt, "daß alle Entscheidungen von so schwerwiegender Art im Geiste des Friedens und der Brüderlichkeit getroffen wurden". So weist der Älteste der Gemeinde, August Reck, in einer Vorstandssitzung am 14. August 1923 warnend auf "Ernstes unserer Zeit" hin und bittet, "in Liebe und Einigkeit zusammenzustehen und so das von Gott anvertraute Werk in Treue zu verrichten". Er spricht offen Differenzen an, die zwischen Mitgliedern der Leitung der Gemeinde bestehen und einer effektiven Arbeit im Weg stehen, und bittet um klärende Gespräche, welche dann auch geführt werden.
Probleme gibt es unter anderem auch zwischen den Generationen. 1925 wird die von der Jugendgruppe selbst gewählte Leitung vom Vorstand der Gemeinde nicht anerkannt, und es wird ein Mitglied des Vorstandes als kommissarischer Leiter eingesetzt, bis eine Neuwahl durchgeführt werden kann. In Protokollen wird außerdem über Interesselosigkeit in Bezug auf Gemeindeversammlungen und Abendmahlsfeiern geklagt.
Eine einschneidende Veränderung im Gemeindeleben bringt das Jahr 1926. Der langjährige Prediger der Gemeinde, Otto Muske, nimmt nach fast sechzehn Jahren in Berlin-Charlottenburg einen Dienstwechsel nach Bremen vor. Der Abschied nach langer und guter Zusammenarbeit zwischen Prediger und Gemeinde fällt schwer. Jedoch kann fast unmittelbar nach Otto Muskes Verabschiedung im September sein Nachfolger, Dr. Hans Luckey, der bis dahin Prediger der Baptistengemeinde Königsberg-Salzastraße war, im November begrüßt werden. Betrachtet man die Gemeindestatistik des folgenden Jahres, so kann man zu dem Schluß kommen, daß der Predigerwechsel - auch wenn er von den meisten Mitgliedern der Gemeinde als schmerzlich empfunden wurde - zunächst einen weiteren Aufschwung im Gemeindeleben bringt. Alle Gemeindegruppen, heißt es im Jahresbericht von 1927, entwickeln "eine gesegnete Tätigkeit", und 62 zumeist junge Menschen werden in diesem Jahr getauft.
Die Gemeinde hat nun eine Mitgliederzahl erreicht, die eine Betreuung durch den Prediger allein immer mehr erschwert. Um hier Abhilfe zu schaffen und auch die Versorgung der alten und kranken Mitglieder der Gemeinde zu gewährleisten, entscheidet man sich, zusätzlich zum Prediger eine Diakonisse als Gemeindeschwester anzustellen. Im März 1927 wird Schwester Ulrike Fritsch vom Diakonissenhaus "Bethel" in ihren Dienst eingeführt. Sie sorgt für eine kontinuierliche Versorgung der Bedürftigen, auch als die Gemeinde bald wieder einmal vor der Frage eines Predigerwechsels steht. Dr. Hans Luckey nimmt im Frühjahr 1929 die Berufung als Lehrer an das "Predigerseminar", der theologischen Ausbildungsstätte der deutschen Baptistengemeinden in Hamburg, an. Im Laufe seiner dortigen vierzigjährigen Tätigkeit wird er zum prägenden Theologen der vierten Generation des deutschen Baptismus.
Wieder ist die predigerlose Zeit für die Gemeinde relativ kurz. Im Oktober 1929 beginnt Samuel Link aus Tübingen seinen Dienst in Berlin-Charlottenburg. Er wird die Gemein¬de in ein Jahrzehnt führen, das nicht nur in politischer Hinsicht stürmisch werden wird. Die Herausforderungen der politischen Situation in Deutschland bahnen sich an, als die Gemeinde 1929 vor der Frage steht, die Partei des "Christlich-Sozialen-Volksdienstes" (CSVD) zu unterstützen, eine Absplitterung der Deutsch Nationalen, zu der verschiedene Baptisten Kontakt haben, darunter auch der spätere Direktor des Bundes der deutschen Baptistengemeinden, Paul Schmidt, der den CSVD von 1930 bis 1932 als Reichstagsabgeordneter vertritt. Aufgrund seines Bekenntnisses zu sogenannten "christlichen Grundsätzen", seiner konservativen Kulturpolitik und seines moralischen Anspruchs stehen viele Mitglieder unterschiedlicher Freikirchen dem CSVD positiv gegenüber.
Andrea Strübind stellt in ihrer Untersuchung über die Geschichte des Baptismus im "Dritten Reich" fest:
__"Wieweit die Sympathie für den CSVD in baptistischen Kreisen reichte, zeigte die Bundeskonferenz 1930 in Königsberg, auf der Schmidt nicht nur einen programmatischen Vortrag zur Stellung der Gemeinde im Staatsleben hielt, sondern auch eine nachdrückliche Wahlrede für den CSVD. In dieser Rede kritisierte er die 'Weltabgewandheit' der Christen und fordert sie auf, ihre politische Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen" (Die Unfreie Freikirche, 54).__
In Charlottenburg verhallt Paul Schmidts leidenschaftlicher Aufruf jedoch - wenn auch nicht ungehört, so doch unbefolgt - und der Gemeindevorstand entscheidet sich gegen eine Unterstützung der Partei.
Innere und äußere Stürme 1930 bis 1945
Im Jahre 1930, als die NSDAP bei der fünften Reichstagswahl große Gewinne erzielte, heißt es im Jahresbericht der Gemeinde:
"Krisis des Christentums' ist das Stichwort unserer aufgewühlten Zeit. Das letzte Buch der Bibel redet von einer 'Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, zu versuchen alle, die auf Erden wohnen.' (Offb. 3, 10). Die Welt steht im Banne des Kommenden. Der Schatten ist schon da."
Fast prophetisch muten diese Worte im Blick auf die kommende Hitlerzeit an, die bereits anfängt ihre Schatten auf das Gemeindeleben zu werfen. Immer deutlicher wird die apokalyptische Sprache, die Samuel Link gegenüber der Gemeinde gebraucht, um die Zeit zu deuten: der "große Abfall" ist in vollem Gange, die "Zeichen der Zeit" weisen auf Christi Wiederkunft hin, die Gemeinde soll "als reine Jungfrau" Christus zugeführt werden. Abgesehen von solch vereinzelten apokalyptischen Deutungen finden sich in den Quellen aber keine Hinweise, daß innerhalb der Gemeinde eine intensive Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen stattgefunden hat. In baptistischen Veröffentlichungen wird das Dritte Reich mit "lauter Hoffnung und leiser Skepsis" (Balders) begrüßt. Der bereits erwähnte Paul Schmidt schreibt in der Weihnachtsausgabe der baptistischen Zeitschrift "Der Wahrheitszeuge":
"Das Dritte Reich denkt nicht daran, uns irgendwie unseren Lebensraum zu verengen. Alle aufgetauchten Besorgnisse erwiesen sich als völlig unbegründet. Es ist für uns durch und durch unpolitische Gemeinden selbstverständlich, daß sie dem Staat geben, was des Staates ist, der Obrigkeit untertan sind, für sie beten und um so freudiger mitarbeiten, wenn ihre Glieder aufgerufen werden, wenn das positive Christentum mit seinen Kräften nicht nur geduldet, sondern gepflegt wird. Darum ist es auch völlig ausgeschlossen, daß die Gemeinde irgendwie eine Heimat für politische Reaktionen irgendeiner Art sein könne noch sein werde."
Im Jahre 1932, als die NSDAP stärkste Fraktion im Reichstag wird, muß in Gemeindeversammlungen in Charlottenburg allerdings des öfteren darauf hingewiesen werden, politische Diskussionen und das Tragen von Parteiabzeichen "auf dem Kapellengrundstück und in der Gemeinde zu unterlassen." Auch verlassen 1933 eine Reihe von Mitgliedern die Gemeinde aus sogenannten "weltanschaulichen Gründen". Es ist zu fragen, ob sich hinter dieser Formulierung ein Hinweis auf Auseinandersetzungen über nationalsozialistische Ideologie verbirgt. Allgemein gilt allerdings, daß nicht der aufkommende Nationalsozialismus sondern die kommunistische Gewaltherrschaft mit ihrem "expansionistischen Programm" den Baptistengemeinden in Deutschland als die eigentliche Bedrohung der christlichen Gemeinde erschien.
"Eine der Hauptsorgen war," schreibt Günter Balders, "daß der antichristliche Bolschewismus in Deutschland Fuß fassen könnte, als dessen Vorreiter die fast eine Million Mitglieder starke 'Gottlosenbewegung' der Freidenker und die sich weiterhin betont antireligiös artikulierenden Sozialdemokraten der Zeit angesehen wurden" (Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, 86).
Durch die enge Verbindung der deutschen Baptisten zu den russischen Baptistengemeinden wird die Angst vor dem Kommunismus noch mehr geschürt, bekommt man doch dadurch eine detaillierte Kenntnis der schwierigen Situation der christlichen Kirchen in der Sowjetunion (vgl. auch Strübind, Die unfreie Freikirche, 59-60). In Charlottenburg ist diese Verbindung in besonderer Weise gegeben, da ein Kreis ehemaliger russischer "Evangeliums-Christen" Gastrecht in den Gemeinderäumen hat und 1941 - unter ihrem Prediger Rudolf Vogel - um Aufnahme in die Gemeinde bittet. Während der ersten drei Jahre des neuen Jahrzehnts erfolgen allerdings nicht nur außerhalb der Gemeinde in politischer Beziehung unheilvolle Umwälzungen, sondern auch innerhalb der Gemeinde steht man vor außerordentlichen Schwierigkeiten.
Pastor Rudolf Vogel verstarb an den Haftbedingungen am 23. März 1951 im KGB-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Er folgte damit dem Schicksal des Pastors Max Ferber – er war ebenfalls Mitglied der russ. Gemeinde in der Bismarckstr. 40 –, der schon 1948 aus Westberlin verschleppt worden war. Unter den unmenschlichen Gegebenheiten des Gefängnisses Berlin-Hohenschönhausen, dem Sowjetischen Speziallager Nr. 3, erlitten beide Glaubensbrüder 1950 bzw. 1951 den Tod. Informationen HIER
Rudolf Vogel, Geheimdienstfoto
Max Ferber, Geheimdienstfoto
Während in den ersten beiden Jahren des Dienstes von Samuel Link "eine ruhige, stete Entwicklung" stattfindet, bringt das Jahr 1933 eine Krise, welche der Gemeinde empfindliche Verluste aufzwingt. Im Hintergrund dieser Krise stehen die Nachwirkungen der sogenannten "Berliner Erklärung" von 1909, in der durch die Evangelische Allianz die Pfingstbewegung als "widergöttlich" verurteilt und der Irrlehre bezichtigt wurde. Ein gewisser Willi Weiß, der aus den Vereinigten Staaten eingereist ist und dort Mitglied einer Pfingstgemeinde - dem "Bethel Gospel Tabernacle" - in Rochester, New York, war, wird in die Gemeinde aufgenommen. Anscheinend stand hinter der Bitte um Aufnahme nicht zuletzt die Absicht, innerhalb der Gemeinde "missionarisch" tätig zu werden, im Sinne der Lehranschauungen der Pfingstbewegung. Da man überzeugt ist, daß Willi Weiß aus einer amerikanischen Baptistengemeinde kommt, gibt man dem engagierten jungen Mann zunächst gerne Gelegenheit zur Mitarbeit, besonders in der Station Siemensstadt, die seit 1912 in den Protokollen der Gemeinde erwähnt wird. Als sehr schnell deutlich wird, daß Willi Weiß durchaus nicht in der baptistischen Tradition steht und damals umstrittene Lehrmeinungen "pfingstlerischer Provenienz" verbreitet, wird ihm durch den Vorstand jegliche seelsorgerliche Tätigkeit und Verkündigung untersagt. Jedoch geht bereits ein Riß durch die Gemeinde, der schließlich auch den Hirten von der Herde trennen soll.
In die Auseinandersetzungen hineingezogen, erklärt Samuel Link, daß er "nicht in der Geistesrichtung der Baptisten steht" und quittiert mit sofortiger Wirkung seinen Dienst. Seine Äußerungen bezüglich sogenannter "Endzeit-Themen" hätten von Anfang an vermuten lassen können, daß er den Lehrüberzeugungen der Pfingstbewegung gegenüber durchaus aufgeschlossen ist. Er gründet eine eigene Gemeinde, die zum Teil aus Mitgliedern seiner ehemaligen Gemeinde besteht und zunächst unabhängig operiert. Nachdem klärende Gespräche zwischen Prediger Link und seiner ehemaligen Gemeinde stattgefunden haben wird, wird die "Gruppe Link" auf eigenen Antrag hin bei der Vereinigungskonferenz der Berliner Baptistengemeinden 1934 als Gemeinde in die Vereinigung aufgenommen. So bestehen eine Zeit lang zwei Baptistengemeinden in Charlottenburg. Insgesamt verliert die Gemeinde in der Bismarckstraße im Zuge dieser Auseinandersetzung 120 Mitglieder, welche die Gemeinde in zwei Gruppen verlassen. So verringert sich die Mitgliederzahl im Jahre 1933 von 670 auf 560.
Während sich diese Entwicklungen im Gemeindeleben vollziehen, ist August Reck, der bewährte Älteste der Gemeinde, über Monate hinweg krank und nur bedingt fähig, sein Amt auszuüben. Auch diese Schwäche in der Leitung der Gemeinde hat sicherlich zur Eskalation der Krise beigetragen. Für eine Übergangszeit kann der ehemalige Prediger der Gemeinde, Johannes Rehr, gewonnen werden, bis im August 1933 Franz Kuhl aus Breslau seinen Dienst als Nachfolger von Samuel Link antritt. Auch Schwester Ulrike beendet nach sechs Jahren ihren Dienst als Gemeindeschwester. Zu ihrer Nachfolgerin wird Schwester Margarethe Piepereit, ebenfalls eine "Bethel"-Diakonisse, berufen. Das folgende Jahr 1934 steht für die Berliner Baptistengemeinden unter dem Zeichen eines großen Jubiläums und internationaler Begegnungen. Der deutsche Baptismus feiert sein 100-jähriges Jubiläum! Zum einen bringt die aus diesem Anlaß betriebene Beschäftigung mit der eigenen Geschichte eine Festigung der konfessionellen Identität. Zum anderen erfahren die bis dahin unter Diskriminierung leidenden Gemeinden für sie überraschend die öffentliche Anerkennung durch Staat und Presse. Mit Genugtuung stellt man fest:
"Baptistengemeinden sind im neuen Deutschland keine Fremdkörper, sondern Zellen Gottes, durch die Heil und Segen und neues Leben in unseren Volkskörper strömt" (Paul Schmidt, zit. nach Strübind, Die unfreie Freikirche, 143).
Das öffentliche Interesse und die Anerkennung kommen auch anläßlich des 5. Kongresses des Weltbundes der Baptisten, der im August 1934 in Berlin stattfindet, zum Ausdruck. Interessanterweise findet dieser Kongreß fast gegen die Zustimmung der deutschen Baptisten statt. Denn bewogen durch den Protest gegen den Antisemitismus des neuen deutschen Regimes und durch die Kritik am NS-Staat, die innerhalb des Weltbundes der Baptisten - vor allem in den englischen und nordamerikanischen Bünden - geäußert wurden, gibt es im deutschen Baptismus zunächst einen Konsens gegen die Abhaltung der Tagung in Berlin. In der noch ungeklärten Situation unter der neuen Regierung fürchtet man den Vorwurf des "staatsfeindlichen Internationalismus".
Zustande kommt der Kongreß in Berlin schließlich doch durch das deutlich gegenteilige Interesse der deutschen Behörden, denen an der publizistischen Wirkung einer internationalen Konferenz in der deutschen Hauptstadt gelegen ist und die durch das Kirchliche Außenamt und das Auswärtige Amt aktiv auf die Durchführung des Kongresses hinwirken. Auch in der Friedenskapelle in Charlottenburg findet am 7. August eine internationale Tagungsveranstaltung statt: die skandinavisch-baltische Jugend trifft sich hier.
Im Jahresbericht der Gemeinde von 1934 heißt es im Rückblick auf den Kongreß: "er wird uns unvergeßlich bleiben mit seinen gewaltigen Eindrücken." Im selben Bericht wird in einem Nebensatz deutlich, wie subtil sich der Einfluß nationalsozialistischer Strukturen und Ideologie im Gemeindeleben bis in die Sprache hinein auswirkten: im Zusammenhang mit ihrem 25-jährigen Jubiläums wird die sogenannte "Schriftenmission" als die "Sturmtruppe" der Gemeinde herausgestellt. Wenig subtil dagegen ist der Eingriff des NS-Regimes in die Belange des baptistischen Gemeindebundes im Februar 1934. Diesmal ist ein Herzstück baptistischer Arbeit betroffen, nämlich die Verbandsjugendarbeit, die aufgrund ihrer assoziierten Stellung zum Evangelischen Jugendwerk und im Zuge der Gleichschaltung in die Hitlerjugend eingegliedert werden soll. Um einer direkten Überführung in die Hitlerjugend zuvorzukommen, beschließen die freikirchlichen Jugendvertreter am 8. Februar die Selbstauflösung ihrer Verbände. Damit kann die baptistische Jugendarbeit nicht mehr in den Verbänden und sogenannten "Vereinen" stattfinden, sondern kann nur noch gemeindebezogen erfolgen und muß neue Formen entwickeln. Neben allen Umbrüchen gibt es immer wieder auch Zeichen der Kontinuität. Im Jahre 1935 feiert August Reck sein 25-jähriges Jubiläum als Ältester der Gemeinde. Die Festpredigt hält Friedrich Wilhelm Simoleit, der "Bundesälteste" der deutschen Baptisten. Alle Ältesten der Berliner Gemeinden erscheinen vollzählig. Es wird deutlich, wie sehr der Jubilar geschätzt wird und er auch über Berlin hinaus bekannt geworden ist. Weniger als zwei Jahre später stirbt August Reck nach langer Krankheit und hinterläßt eine Lücke in der Gemeinde, die nicht leicht gefüllt werden kann, zumal kurz zuvor Franz Kuhl nach nur zwei Jahren Predigerdienst in Charlottenburg nach Hindenburg gewechselt ist. Er war in Auseinandersetzungen hineingezogen worden, die das Wirken Samuel Links in der Gemeinde verursacht hatte und die immer noch anhielten. Die Differenzen, die sich dadurch zwischen Prediger und Gemeinde entwickelten, machten die Auflösung des Dienstverhältnisses nötig. So haben in nur zehn Jahren in der Charlottenburger Friedenskapelle drei Pastoren gewirkt, von denen zwei unter heftigen Auseinandersetzungen gingen. Nicht zuletzt weil die Wogen der Auseinandersetzung über lange Zeit nachwirkten, ist verständlich, daß dies für die Entwicklung der Gemeinde nicht förderlich war.
Am 1. April 1937 tritt Karl Schütte als siebter Prediger der Gemeinde seinen Dienst an. Im selben Jahr übernimmt Felix Kaiser das Amt des Ältesten - zunächst nur kommissarisch und ab 1943 offiziell. Unter neuer Leitung werden auch neue Aufgaben wahrgenommen. So werden nach fast vierzig Jahren wieder engere Kontakte zur Gemeinde "Bethania", mit der man den Weg der Selbständigkeit unter einem gemeinsamen Prediger begonnen hatte, geknüpft. Mittlerweile hat die "Bethania-Gemeinde ihren Standort in der Emdener Straße in Berlin-Moabit. Zusammen wird an der Charlottenburger Röntgenbrücke eine Zeltmissionswoche veranstaltet. Dies wird nur eine unter vielen Zeltmissionsveranstaltungen bleiben, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Charlottenburg stattfinden werden. Gerade diese Form des missionarischen Gemeindeaufbaus war insbesondere in den Nachkriegsjahren effektiv und beliebt. Neben der Freiheit in der Gemeindearbeit, die man genießt und die in missionarischen Möglichkeiten wie der Zeltmission zum Ausdruck kommt, wird aber auch deutlich, wie an anderen Stellen die Regierung die Entfaltung der Kirchen zu verhindern sucht. So wird der von der Station Siemensstadt für ihre Veranstaltungen bisher genutzte Schulraum ohne Angabe von Gründen gekündigt, was verstanden wird als "eine jener Maßnahmen, die das religiöse Leben einschnüren sollten." Die Stationsarbeit wird aber weitergeführt in einer Gartenlaube, welche die Gemeinde erwirbt und im folgenden Jahr schon wieder aufgeben muß, weil das gesamte Gartengelände in der Gegend dem "Wohnungsbau-Programm Charlottenburg-Nord" weichen muß. Die Versammlungen finden nun als sogenannte "Stubenversammlungen" in Wohnungen der Gemeindemitglieder statt.
Im Jubiläumsjahr 1938 muß allerdings mehr als nur eine Gartenlaube aufgegeben werden. Auch von manchen treuen Mitarbeitern - wie dem langjährigen Vorstandsmitglied Adolf Kassel und dem Hauptkassierer und Schriftführer Heinrich Müller -, die entweder verstarben oder aus beruflichen Gründen fortziehen, muß man Abschied nehmen. Und verabschieden muß man sich nach dem 9. November auch von letzten Illusionen über die Absichten des NS-Regimes dem jüdischen Volk gegenüber. Bei den organisierten Gewaltaktionen gegen Juden und jüdische Einrichtungen in der sogenannten "Reichskristallnacht" wird in nächster Nähe der Friedenskapelle die liberale Synagoge von 1890 in der damaligen Schulstr. 7 - heute Behaimstraße 11 - geplündert und angezündet. In den Rückblicken und dem Jahresbericht der Gemeinde wird allerdings mit keinem Wort auf dieses Ereignis hingewiesen oder angedeutet, wie diese Gewaltaktion erlebt und beurteilt wurde. So muß es ungeklärt bleiben, ob in den Worten, die man vermißt, Gleichgültigkeit oder betroffenes Schweigen zum Ausdruck kommt.
In einem scharfen Kontrast zu dem zerstörerischen Geschehen im November des Jahres steht der Hinweis im Jahresbericht auf das 40-jährige Jubiläum der Gemeinde, "das am 16. Oktober mit viel frohem Dank für den Frieden und den ruhigen Aufbau der Gemeinde begangen werden kann." Das Jubiläum bringt ein Wiedersehen mit zwei ehemaligen Predigern, Otto Muske und Dr. Hans Luckey, welche als Festredner anwesend sind. Lag schon auf den vorhergehenden Jahren der lähmende Druck des drohenden Krieges, so kommen die Mitglieder der Gemeinde zu ihrer Jahresabschlußfeier 1938 in der Silvesternacht zusammen, um sich gegenseitig im Blick auf das kommende Jahr durch eine Auslegung von Psalm 62,2 Mut zuzusprechen: "Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft." In der "Geschichte der Baptistengemeinde Charlottenburg" von 1948 heißt es dann im Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 1939:
"Im Jahre 1939 begann der Weltenbrand, von frevelhaft gottlosem Machtwahn angezettelt, der soviel Blut gekostet hat, unendliches Herzweh über die Menschheit brachte und die Welt in einen Kampf stürzte, in dem sie sich heute noch zerfleischt. Das Geschehen auf der Erde nimmt apokalyptische Züge an, Mächte und Männer enthüllen sich als Vorbilder des letzten gewaltigen Weltherrschers, des Antichristen, den erst Christus mit seiner Erscheinung besiegen wird, um dann endlich das Reich des Friedens, der Wahrheit und der Gerechtigkeit auf Erden aufzurichten. Am 31. August flehte die Christenheit Gott noch um Erhaltung des Friedens an, den zu brechen Gewissenlosigkeit schon längst entschlossen war. Am 3. September verabschiedete sich die Gemeinde in einer erschütternd ernsten Abendmahlsfeier von den Brüdern, die sofort zum Kriegsdienst einberufen wurden und denen in folgenden Jahren die Blüte unserer jungen Mannschaft bis hin zu den noch schulpflichtigen Knaben und die ergrauten Männer folgte."
Wie schon in der Vergangenheit werden Krisenjahre wieder in apokalyptischen Zügen gedeutet, was zum einen Hoffnung vermitteln soll und zum anderen suggeriert, daß das gegenwärtige Geschehen unausweichlich sei und man sich darein fügen muß. Das Gemeindeleben geht trotz aller kriegsbedingten Beschränkung weiter, auch wenn männliche Mitarbeiter rar sind. Alleine im ersten Jahr des Krieges werden 31 Mitglieder und Freunde der Gemeinde, die zu der Zeit 571 Mitglieder zählt, zum Heeresdienst eingezogen. Im selben Jahr wird erwogen, einen zweiten Prediger anzustellen, um Karl Schütte zu entlasten. 1940 beginnt Ernst Wank seinen Dienst an der Seite von Karl Schütte, mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit und Arbeit auf den Stationen der Gemeinde. Bereits wenige Monate später wird er jedoch schon zum Militärdienst eingezogen. Auch Schwester Margarete verläßt die Gemeinde nach fast acht Jahren. Als ihre Nachfolgerin im Amt der Gemeindeschwester wird Schwester Friederike Schmitt berufen.
Das Jahr 1941 bringt eine Veränderung, die nicht nur rein äußerer Natur ist, wohl aber in gewissem Sinne kriegsbedingt - und bis heute wirksam. Der Bund der Baptistengemeinden in Deutschland erhält einen neuen Namen: "Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden". Damit wird aus der Baptistengemeinde Charlottenburg offiziell die "Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Berlin-Charlottenburg". Zustande kommt diese neue Namensgebung durch den Zusammenschluß der Baptistengemeinden mit dem sogenannten "Bund freikirchlicher Christen" (!BfC). Bereits im Jahre 1937 hatten Verhandlungen zwischen Baptisten, !BfC und den Freien evangelischen Gemeinden begonnen, in denen man über eine Einigung der täuferischen Kirchen nachdachte. Nachdem sich die Freien evangelischen Gemeinden immer mehr distanzierten, wurde ein Zusammenschluß von Seiten der !BfC-Gemeinden gesucht, weil 1940 die Versammlungen der Gemeinden dieser Benennung in Polen aufgrund der deutschen Invasion unter ein staatliches Verbot zu geraten drohten und sich dem !BfC nicht anschließen konnten, da der auf das "Altreichsgebiet" beschränkt war. Auch fürchtete man eine Zwangsvereinigung mit anderen Freikirchen. Um dem zuvorzukommen und in der Situation in Polen Abhilfe zu schaffen, suchte man einen Zusammenschluß mit den Baptisten, der existenzsichernde Vorteile bot. So wurden aufgrund äußeren Drucks schon begonnene zwischenkirchliche Gespräche beschleunigt, und im Februar 1941 fand die Gründungsversammlung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland statt, in dem seither zwei Freikirchen innerhalb gemeinsamer Strukturen und unter Bewahrung ihrer jeweiligen Identität miteinander existieren.
Das Eingreifen der Behörden in die Angelegenheiten der Kirchen wird immer direkter. Manchmal betrifft es "lediglich" Äußerlichkeiten, die allerdings nicht geringen finanziellen Aufwand bedeuten. So muß 1942 die gesamte Fassade des Wohnhauses aufgrund der Vorschriften für die Gestaltung der sogenannten "Ost-West-Achse", zu der auch die Bismarckstraße gehört, mit einem Aufwand von 21.000,- Mark neu gestaltet werden. Zu anderen Gelegenheiten ist aber nicht nur die Fassade, sondern das "Innenleben" betroffen: die Stationsgemeinde Wilmersdorf muß ein Jahr nach ihrem 40-jährigen Jubiläum aufgelöst werden, weil die Behörden die Hergabe der benutzten Raeume als Wohnungen verlangen und sich keine neuen Räumlichkeiten finden lassen. Gegen den Wunsch der Leitung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, die rät, daß sich die Mitglieder der nahegelegenen !BfC-Gemeinde in der Düsseldorferstraße anschließen sollen, schließt sich die Station der Muttergemeinde an.
Die Kriegsereignisse bedrücken immer stärker das Leben. Die Bombenangriffe stellen die seelische Widerstandskraft auf härteste Proben. Bereits 1941 mußte aufgrund einer behördlichen Anordnung unter dem Gemeindesaal ein öffentlicher Luftschutzraum eingerichtet werden. Eine große Anzahl von Familien der Gemeinde, zuletzt sind es über 100, verlieren ihre Wohnung und zum größten Teil ihren ganzen Besitz. Nicht wenige erleiden dieses Schicksal öfter als einmal. Das Dach der Kapelle wird mehrere Male zerstört, doch kann es durch die unverdrossene Bereitwilligkeit vieler Mitglieder immer wieder hergestellt werden. Im Jahresbericht von 1944 heißt es:
"Sehr nahe ging der Todesengel an der Bismarckstraße 40 vorüber, als am 30. Januar drei schwere Bomben in allernächster Nähe fielen. Die Häuser Richard-Wagner-Str. 3, 5 und 7 wurden dabei fast völlig zerstört, im Luftschutzraum wurden dort 69 Personen verschüttet, von denen 46 nur als Leichen geborgen werden konnten. Das sofort ausbrechende Feuer drohte auch auf unsere Gebäude überzugreifen, so daß die Wohnungen von Schwester Friederike und Geschwister Wank geräumt werden mußten, doch konnte der Brand lokalisiert werden. Durch den Luftdruck wurden aber Dach und Gewölbe der Friedenskapelle so schwer beschädigt, daß der Raum nicht mehr benutzt werden durfte und bei einem neuen schweren Angriff am 15. Februar stürzte das Gewölbe völlig ein. Fleißige Hände haben schon kurze Zeit danach den Schutt beseitigt und das Gestühl aus der Mitte unter den erhalten gebliebenen Emporen in Sicherheit gebracht, um es vor gänzlichem Verfall zu schützen."
Trotzdem kann am Pfingstgottesdienst bei strahlendem Sonnenschein ein Taufgottesdienst "unter freiem Himmel" gefeiert werden. Ansonsten werden die Versammlungen der Gemeinde im Gemeindesaal und dem an die Kapelle angrenzenden Predigerzimmer abgehalten, die unzerstört geblieben sind, und wo man auch noch der Evangelischen Gemeinschaft Gastrecht gewährt, nachdem ihr Versammlungsraum in der Kaiser-Friedrich-Straße zerstört wurde. Auch die Adventistengemeinde kommt eine Zeit lang in diesen Räumen zusammen. Nach wochenlangen Straßenkämpfen in Berlin, bei denen das von Bomben unversehrt gebliebene Wohnhaus beinahe noch durch Beschießung dem Feuer zum Opfer fällt, wird am 2. Mai 1945 der Waffenstillstand geschlossen und die sowjetische Rote Armee besetzt die Stadt.
Der letzte Gottesdienst vor dem Abkommen muß am 29. April aufgrund der anhaltenden Kämpfe im Hauskeller abgehalten werden, wo man bei fast pausenlosem Einschlagen der Granaten betet. Neben den an der Front Gefallenen beklagt man auch Mitglieder und bewährte Mitarbeiter, die noch während der letzten Tage des Krieges als Zivilisten in den Unruhen getötet wurden. Die Kriegsverluste der Gemeinde bestanden allerdings nicht nur in den Toten und Vermißten, die man beklagte, oder den inneren Verlusten an Vertrauen und Glauben "in die Obrigkeit", die nicht meßbar sind. Zum Teil waren Mitglieder der Gemeinde evakuiert worden und sind nicht zurückgekehrt. Nicht wenige mußten an auswärtige Gemeinden überwiesen werden. Doch das Gemeindeleben beginnt sich trotz aller Verluste und nachwirkenden Schrecken langsam wieder zu normalisieren. Bereits ab Juli finden wieder sonntäglich zwei Gottesdienste statt.
Nachdem der Westen Berlins von britischen und amerikanischen Truppen besetzt wird, kann kurz danach in der noch zerstörten Friedenskapelle eine denkwürdige Taufe stattfinden. Ein baptistischer Kaplan der amerikanischen Besatzungstruppen tauft einen jungen Offizier, der sich in den letzten Kriegstagen bekehrt hat. Man mag das als ein Hoffnungszeichen sehen, daß trotz menschenverachtender Zerstörung und allem inneren und äußeren Zerbruch, den das Dritte Reich verursacht hat, Zukunft und Versöhnung ermöglicht werden.
Wiederaufbau und Neuorientierung 1946 bis 1959
Schon bald nach Beendigung des Krieges nimmt der Besuch der Gottesdienste merklich zu. Nicht nur einige der evakuierten Mitglieder der Gemeinde kehren zurück, sondern auch fremde Besucher finden sich ein. Es ist zu spüren, daß Menschen unter den Schlägen der Gegenwart nach Halt und Sinn suchen. Der Gemeindepastor Karl Schütte nimmt die Gelegenheit war und macht ein spezielles Angebot: Glaubensgespräche für "suchende Menschen", sogenannte "Heilsstunden". Diese Veranstaltungen werden dankbar angenommen, und nicht wenige der Besucher schließen sich der Gemeinde an. So werden in den ersten drei Jahren nach Kriegsende 90 Menschen in der Friedenskirche getauft.
Schwester Friederike und Ernst Wank, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft vertretungsweise in der Gemeinde in Leipzig gearbeitet hat und nun als deren Prediger berufen wurde, verabschieden sich von der Gemeinde im Jahre 1946. Schwester Esther Schüttel wird noch im Mai desselben Jahres als Gemeindeschwester berufen. Trotz der fast lückenlosen Nachfolge in diesem Amt, wird die Beanspruchung des Predigers durch seelsorgerliche Aufgaben und den Wiederaufbau der Gemeinde immer größer. So stimmt die Leitung der Gemeinde nur zögernd zu, als Karl Schütte von der Bundes- und Vereinigungsleitung den Auftrag erhält, für eine Woche jeden Monat die sich in Vorpommern und Mecklenburg neu bildenden Flüchtlingsgemeinden zu betreuen. Die Lage wird nicht vereinfacht dadurch, daß Felix Kaiser seit Kriegsende außerhalb von Berlin lebt und 1947 sein Ältestenamt niederlegt, weil aus beruflichen Gründen eine Rückkehr nach Berlin unmöglich wird. An seiner Stelle beruft die Gemeinde Reinhold Thomas in das Amt des Ältesten. In der Station in Siemensstadt nimmt man die Arbeit wieder außerhalb der Wohnungen im Jugendheim Schuckertdamm auf. Lediglich die Sonntagschularbeit findet zunächst noch in der Notwohnung des Ehepaars Timm statt. Als sich jedoch schon bald sonntäglich regelmäßig 70 Kinder einfinden, wird auch dieser Zweig der Stationsarbeit in das Jugendheim verlegt.
Derweil hat man in der Muttergemeinde bereits 1946 Überlegungen zum Wiederaufbau der Kapelle angestrengt. Der erste Kostenanschlag beläuft sich auf 30.000,- Mark. Jedoch wird es bald deutlich, daß diese Summe vermutlich um ein Mehrfaches überschritten werden muß. Man beschließt, auf der Westseite drei Fenster durchbrechen zu lassen, um im Gottesdienstraum mehr Licht zu schaffen. Zugleich wird das Fenster auf der Nordseite hinter der Kanzel bis auf die Rosette zugemauert. Dasselbe Schicksal ereilt das Fenster auf der Südseite hinter der Orgel. Erhebliche, unvorhergesehene Arbeiten sind nötig, um die Seitenwände, die durch den Luftdruck der Bombenexplosionen aus dem Verband gedrückt worden waren, und die Dachkonstruktion ordnungsgemäß wiederherzustellen. So muß der Zeitpunkt der Kapelleneinweihung immer wieder hinausgeschoben werden, bis in das Jubiläumsjahr 1948. Am 22. Februar findet die feierliche Einweihung der wiederaufgebauten Friedenskapelle statt, an dem auch Vertreter der Militärregierungen und der städtischen Behörden teilnehmen. Die gesamten Baukosten belaufen sich schließlich auf 228.000,- Mark, von denen die Hälfte durch freiwillige Spenden der Mitglieder gedeckt werden. Der Initiative des Ältesten Reinhold Thomas ist es zu verdanken, daß die Bauarbeiten vor dem Eintritt der Währungsreform, welche die Gemeinde vor neue, finanzielle Belastungen stellt, abgeschlossen werden.
Im Jubiläumsjahr muß man auch Abschied nehmen von dem langjährigen Prediger Karl Schütte, der eine Stelle als Schriftleiter im "Oncken-Verlag" des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden annimmt. David Gritzki aus Halle wird noch im August desselben Jahres als Prediger berufen und im April 1949 in den Gemeindedienst in Charlottenburg eingeführt. Während sich der innere und äußere Aufbau der Gemeinde stetig voranbewegt, spitzt sich die Krise in der besetzten Stadt, die in einen amerikanischen, einen englischen, einen französischen und einen sowjetischen Sektor aufgeteilt ist, immer weiter zu. Zunehmend wird deutlich, daß die Interessen und Ziele der sowjetischen Besatzungsmacht denen der Westalliierten entgegen laufen. Die Auseinandersetzungen finden einen vorläufigen Höhepunkt, als die sowjetische Militärverwaltung Mitte 1948 für ihre Besatzungszone und für alle vier Sektoren Berlins die "Ostmark" einführen. Da diese Maßnahme den Viermächtestatus Berlins verletzt und außerdem die wirtschaftliche Abhängigkeit der Westsektoren vom sowjetisch besetzten Teil Deutschlands bedeutet, nehmen die Westalliierten diesen Schritt nicht tatenlos hin und verfügen die Außerkraftsetzung der sowjetischen Anordnung. Die drei westlichen Stadtkommandanten von Berlin führen für West-Berlin die schon in der "Westzone" geltende "Westmark" ein, was die sowjetische Besatzung prompt mit der Blockade der Berliner Westsektoren beantwortet.
Der einzige Ausweg unter Verzicht auf eine militärische Konfrontation ist die Versorgung West-Berlins auf dem Luftwege. Zwischen dem 28. Juni 1948 und dem 12. Mai 1949 fliegen amerikanische und britische Piloten in insgesamt fast 280.000 Flügen mehr als 2 Millionen Tonnen Güter nach West-Berlin. In dieser Zeit wird die Stadt praktisch geteilt. Die administrative Spaltung wird am 30. November 1948 durch die Ausrufung des sogenannten "provisorischen demokratischen Magistrates" in Ost-Berlin vollzogen. In der Chronik der Gemeinde ist von diesen Ereignissen und ihren Auswirkungen auf das Leben in der Gemeinde und das ihrer Mitglieder merkwürdigerweise mit keinem Wort die Rede, so wie auch später eines der einschneidendsten Ereignisse in der Geschichte der Stadt - der Mauerbau von 1961 - vollkommen unerwähnt bleibt. Dabei erinnern sich Zeitzeugen, daß die Blockade Berlins durchaus ihre Auswirkungen im Gemeindeleben hatte. Des öfteren bringen Mitglieder Preßkohlen mit, damit in den Gemeinderäumen während der kalten Monate geheizt werden kann. Während der Stromsperren, als keine Straßenbahn fährt, kommen manche zu Fuß zum Teil aus weit entfernt gelegenen Bezirken wie Neukölln in die Versammlungen in der Charlottenburger Friedenskapelle. Hilfe in politisch und wirtschaftlich brisanter Zeit kommt allerdings nicht nur von außen und "oben", sondern wird auch innerhalb der Gemeinde selbst organisiert. So gibt es für Rentner und Arbeitslose 1951 Fahrgeld aus der sogenannten "Unterstützungskasse" und man kümmert sich intensiv um bedürftige Mitglieder.
Das diakonische Anliegen der Gemeinde wird in den Jahren zwischen 1952 und 1955 dann in konkreter Weise bedacht: man plant den Bau eines Altenheimes auf dem gemeindeeigenen Grundstück in der Kirschenallee. Die Konkretisierung der Pläne gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht, und die Bemühungen um den Erwerb eines zusätzlich nötigen Grundstücks scheitern endgültig 1955. In der Zwischenzeit finden manche besonderen Ereignisse in der Friedenskapelle statt. Evangelisationswochen werden zum Beispiel fast jährlich veranstaltet - nicht selten zweimal im Jahr. Das missionarische Engagement der Gemeinde bleibt nicht ohne Frucht. Jedes Jahr werden regelmäßig eine große Zahl von Menschen, die der Kirche und dem christlichen Glauben entfremdet waren, getauft. Im Jahre 1953 zählt die Gemeinde 800 Mitglieder.
Im selben Jahr - wie auch schon zwei Jahre zuvor - ist die " Bundeskonferenz" des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden zu Gast in der Friedenskapelle. Dies bedeutet nicht nur die Mitarbeit vieler, sondern auch manche finanzielle Investition, da man im Blick auf diese Veranstaltung, bei der Repräsentanten aller Bundesgemeinden anwesend sein werden, verbliebene Kriegsschäden an Haus und Kapelle beseitigen will.
Überhaupt hat es mit dem Bauen und Umbauen kein Ende. 1956 geht ein weiterer größerer Umbau der Gemeinde zu Ende, so daß wieder einmal eine Einweihung gefeiert wird.
Im Jahre 1958 findet nach fünfzig Jahren der zweite Europäische-Baptistische Kongreß in Berlin statt. Drei Spruchbänder in der Deutschlandhalle verkünden das Thema: "Christus unsere Hoffnung - Europa unsere Verantwortung." Beim Anblick dieses Mottos werden viele Besucher an andere Banner erinnert, die ja vor nicht langer Zeit in Berlin und anderswo prangten, um den Haß zwischen den europäischen Völkern zu schüren. Diesmal ist die Botschaft eine verbindende und versöhnliche. Die Berliner Gemeinden werden durch die Großveranstaltung stark beansprucht. Auch in der Gemeinde Charlottenburg setzt man sich ein. Vor allem Quartiere für ausländische Kongreßgäste werden benötigt. Selbst zum Teil in nur dürftig ausgestatteten Zwei-Zimmer-Wohnungen lebend, kommen manche Gemeindemitglieder für die Tage des Kongresses auf engstem Raum in Kontakt mit den europäischen Nachbarn. "Der Tagesspiegel" vom 31. Juli 1958 berichtet über den Kongreß: "Man kann über Glaubensformen streiten, aber nicht über Begeisterung und Hingabe der Gläubigen.
'Wir hoffen auf Christus, denn wir sind Christen, und dies ist Christentum', sagte der Engländer Dr. G. R. Beasley-Murray. Mit mutiger Selbstkritik betrachtete man das Wirken der Gemeinden und das Verhalten der Mitglieder. ... Faßt man alle Eindrücke, die dieser Kongreß hinterließ, zusammen, so kann auch der Außenstehende das hohe Maß an Verantwortungsbewußtsein nicht leugnen. Die Baptisten sind innerhalb des Christentums nur eine - wenn auch bedeutende - Gruppe, aber sie sind wie alle Christen beauftragt, den christlichen Ursprung Europas in lebendige Gegenwart zu verwandeln."
Der Älteste der Gemeinde, Reinhold Thomas, der die Gemeinde in der Aufbauphase mit viel Einsatz und Umsicht geleitet hat, stirbt im August 1958. Vorübergehend übernimmt der Prediger David Gritzki dessen Amt mit. Er wird jedoch bereits im folgenden Jahr als Prediger und Seelsorger in das Diakoniewerk Bethel berufen. Der Nachfolger David Gritzkis, Ernst Krischik, der im Mai 1959 seine Arbeit in Charlottenburg beginnt, übernimmt beide Ämter für die nächsten vier Jahre.
Expansionspläne im Mauer-Berlin 1960 bis 1972
Die Unzufriedenheit im Ostteil der Stadt ist in den letzten Jahren immer mehr gewachsen. Nachdem der Aufstand vom 17. Juni 1953 von Verbänden der Roten Armee brutal niedergeschlagen wurde, entschieden sich immer mehr Menschen zur Flucht aus der DDR, oft über die "offene Grenze" nach West-Berlin. Allein im Jahre 1953 waren es fast 300.000. Im Verlaufe der Jahre von der Gründung der DDR im Jahre 1949 bis 1961, schätzt man, haben ungefähr 3, 6 Millionen Menschen ihrer Heimat im Osten Deutschlands den Rücken gekehrt. In diesen Jahren nimmt auch die Gemeinde in der Friedenskapelle neue Mitglieder auf, die aus Ostbezirken der Stadt und der DDR nach West-Berlin kommen. Die völlige Abriegelung der DDR und Ost-Berlins vom Westen soll die immense Fluchtbewegung stoppen. Am 13. August 1961 wird diese Maßnahme grausame Wirklichkeit, zunächst in Form von Stacheldrahtsperren und Tage später durch die nahezu unüberwindliche Mauer. Einige wenige Mitglieder, die in Ost-Berlin wohnen, werden dadurch von der Gemeinde getrennt. Jeglicher persönlicher Kontakt zwischen den Bewohnern der Osthälfte und der Westhälfte der Stadt ist bis zur Jahreswende 1963/64 unmöglich. Bereits 1960 kann man aber über die deutsch-deutsche Grenze hinweg den ersten Rundfunkgottesdienst aus der Friedenskirche hören. Die diakonische Fürsorge innerhalb der Gemeinde wird in diesen Jahren eine immer größere Aufgabe, so daß man beschließt, eine zweite Gemeindeschwester zu berufen. 1961 beginnt Schwester Lydia Stelle ihre Arbeit neben Schwester Elsbeth Kroitzsch, die allerdings schon ein Jahr später nach 10-jährigem Dienstjubiläum ausscheidet. Ihre Nachfolgerin wird 1961 Schwester Inge Pewe. Ihr zur Seite steht von 1967 bis 1969 Schwester Elly Petereit. Als Schwester Inge 1971 in die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Berlin-Wedding wechselt, wird Schwester Christa Hummel als Gemeindeschwester berufen.
Auch was die Pastoren angeht, so gibt es in dieser Phase der Gemeindegeschichte Veränderungen, die nicht unwesentlich mit einem Projekt zusammenhängen, das die Gemeinde über Jahre hinweg zunehmend beschäftigt, wenn nicht gar beherrscht: dem sogenannten "Bauvorhaben Charlottenburg Nord". Bereits 1961 beginnen Überlegungen, das Grundstück in der Kirschenallee zu verkaufen, um mit Hilfe des Erlöses ein Grundstück in Siemensstadt kaufen zu können, wo die Stationsarbeit mit viel Engagement, aber unter Raumnot getan wird. Im Jahr 1962 werden konkrete Verkaufsverhandlungen geführt, die Ende des Jahres auch zu einem positiven Abschluß kommen. Das Grundstück, auf welchem dem Erblasser zufolge ein "Missionszentrum" errichtet werden sollte, wird für 32.500,- Mark verkauft. Der Verkaufserlös soll für den Erwerb eines neuen Grundstücks in besser geeigneterer Lage verwendet werden, um dort eine Stations¬gemeinde zu gründen. Im selben Jahr wird neben Ernst Krischik ein zweiter Prediger mit einer halben Stelle angestellt: Harold Eisenblätter soll schwerpunktmäßig in Siemensstadt tätig werden, neben seiner Aufgabe als Jugendpastor der Vereinigung der West-Berliner Gemeinden. Man möchte als Gemeinde in einem neu entstehenden Stadtteil östlich des Kurt-Schumacher-Damms, zwischen Goerdelerdamm und Heckerdamm Fuß fassen und bewirbt sich 1963 beim Stadtplanungsamt Charlottenburg um Berücksichtigung für ein Grundstück, welches dann - 3000 m2 groß und nördlich des Heckerdamms gelegen - im Frühjahr 1965 erworben wird.
Ernst Krischik, der das "Bauvorhaben Charlottenburg Nord" mit viel Einsatz voranzubringen versucht, schreibt im "Gemeindebrief" vom Juni 1966 unter der Überschrift "Charlottenburg Nord! - Ein Wegweiser Gottes?":
"Auf dem Grundstück soll ein Jugend- und Gemeindeheim und ein Wohnhaus mit 16 Wohnungen errichtet werden. Das Wohnhaus wird mit sozialen Wohnungsbaumitteln erstellt. Das Jugend- und Gemeindehaus haben wir selbst zu finanzieren. Dieses Bauvorhaben ist nur durchführbar, wenn wir durch besondere Bauopfer im Laufe der nächsten drei Jahre einen Baufonds anlegen. Wir glauben, daß sich uns für unseren Missionsauftrag eine Tür öffnet, während sich bisher in Siemensstadt die Türen geschlossen haben. Alle unsere Bemühungen um die Station Siemensstadt sind dadurch sehr behindert, daß wir dort keine Raeume haben. ... Da das neu erworbene Grundstück nur etwa 30 Minuten Fußweg von dem bisherigen Schulraum entfernt liegt, dürfen wir diese Missionsmöglichkeit nicht nur als eine offene Tür für Charlottenburg-Nord selbst, sondern auch für unsere Geschwister in Siemensstadt ansehen. Die Arbeit in Siemensstadt krankt seit den 30er Jahren an diesen Raumproblemen. Wenn sich uns nun eine Lösung anbietet, sollten wir sie dann nicht annehmen? Fürsorgliche Eltern helfen ihren Kindern zu einem guten Existenzstart in das Leben."
Das Thema beschäftigt Gemeinde und Gemeindeleitung über Jahre. Manche Probleme juristischer und behördlicher Art, sowie wechselnde Konzeptionen für das Bauvorhaben erschweren die konkrete Umsetzung des Projektes, sind aber offensichtlich nicht unüberwindlich. Auch die finanziellen Herausforderungen kann man scheinbar meistern. Nachdem Harold Eisenblätter von der Gemeinde 1966 verabschiedet wird, beruft man 1969 als zweiten Prediger Heinz-Rainer Schroer, der - neben der Verantwortung für die Jugendarbeit der Gemeinde - schwerpunktmäßig in "Charlottenburg-Nord" arbeiten soll. Eine Umfrage, die er durchführt, ergibt, daß es innerhalb der Gemeinde durchaus unterschiedliche und gegensätzliche Vorstellungen gibt, was die Zielsetzung für das Bauvorhaben betrifft. Die Mehrheit der Gemeinde identifiziert sich nicht mit dem Projekt. Daher werden die Bauabsichten und Planungen nach fast einem Jahrzehnt immer fraglicher. Zu diesem Zeitpunkt teilt Ernst Krischik der Gemeinde mit, daß er seinen Dienst in Charlottenburg für beendet ansieht, und wird im März 1972 verabschiedet. Auch Heinz-Rainer Schroer verläßt die Gemeinde im selben Jahr und wechselt in die Gemeinde Nürnberg-Vestnertorgraben, da er mangels einer klaren Konzeption für "Charlottenburg-Nord" seine ursprüngliche Aufgabenstellung nicht mehr als gegeben ansieht. Auf Empfehlung der Gemeindeleitung beschließt die Gemeinde am 9. Juli 1972, von dem Bauvorhaben in Charlottenburg-Nord Abstand zu nehmen. Wenn das Projekt auch über fast ein Jahrzehnt beherrschendes Thema war, so war es aber doch nicht alles beherrschend. Neben den großen Visionen hat die Routine des Gemeindelebens ihre eigenen Themen: 1960 werden die Kneipenräume im Vorderhaus frei, so daß sie nach Renovierung für die Jugendarbeit genutzt werden können. Zeltmissionswochen werden fast jedes Jahr durchgeführt. Rudi Sprenger wird 1963 als Gemeindeleiter gewählt. Im selben Jahr entsteht eine neue Gemeindegruppe für junge Ehepaare. Zusammen mit anderen Berliner Gemeinden arbeitet man 1966 bei einer Großevangelisation mit Billy Graham mit.
Trotz aller missionarischen Bemühungen, stellt man aber fest, daß der Gemeindeaufbau stagniert. Die sogenannte "moderne Theologie" beunruhigt die Gemüter und die Gemeinden und wird für manche negativen Entwicklungen verantwortlich gemacht. Im Jahre 1967 werden der Gemeinde die Rechte einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" verliehen.
Im selben Jahr, in dem der Rechtsstatus der Gemeinde geklärt wird, ereignet sich aber nicht weit entfernt von der Friedenskapelle etwas, das vielen jungen Menschen Fragen über Recht und Gerechtigkeit aufgibt und einen schwelenden Generationenkonflikt zum Ausbruch bringt. Der Student Benno Ohnesorg wird im Hof des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen. Sein Tod wird zu einem Signal für die sich bildende außerparlamentarische Bewegung.
In den Tagen und Wochen nach diesem Vorfall ziehen Studenten protestierend mit ihren Bannern durch die Straßen, darunter auch Studenten aus der Gemeinde Charlottenburg. Der Studentenkreis der West-Berliner Vereinigung verfaßt in Reaktion auf den Tod Benno Ohnesorg ein Schreiben, damit Kenntnis von dem Vorfall genommen und das Geschehen aus der Sicht christlichen Studenten beleuchtet wird. Als man dieses Schreiben in der Friedenskapelle verteilen will, wird dies den Studenten von Ernst Krischik untersagt.
Die Symptome des Konflikts zwischen den Generationen sind - wenn auch längst nicht so drastisch wie an anderen Orten in der Gesellschaft - auch in der Gemeinde Berlin-Charlottenburg vorhanden. Das wird nicht nur an diesem Zwischenfall deutlich, bei dem das Material dann schließlich auf der Straße an die Mitglieder der Gemeinde verteilt wird und auch dieses Verhalten noch Unwillen hervorruft. Kritik an der Jugend und ihren Methoden wird in den Protokollen der Gemeinde zwischen 1964 und 1966 des öfteren geäußert. Mal ist es die Leitung der Gemeindejugend, mal eine Jugendveranstaltung während der Vereinigungskonferenz, welche die Kritik auf sich ziehen. Eine neu entstandene "Teen Group" löst 1965 nicht zuletzt aufgrund von moderner musikalischer Gestaltung bei der Gemeindeleitung große Bedenken aus. Dies führt zu dem Beschluß, die Arbeit sofort einzustellen. Ein Generationswechsel in der Gemeinde ist aber unaufhaltsam und wird sich in wenigen Jahren auch in der Leitung der Gemeinde durchsetzen.
Charisma und Mission 1973 bis 1989
Im Jahr 1973 beginnt Willi Bergemann seinen Dienst als Pastor und tritt die Nachfolge von Ernst Krischik in Charlottenburg an. Im selben Jahr wird eine neue Gemeindeordnung beschlossen, die es nötig macht, daß der Vorstand geschlossen zurücktritt und eine neue Gemeindeleitung gewählt wird, aus der heraus dann Älteste berufen werden. Dr. Wolfhard Margies, der im Jahr zuvor das Amt des stellvertretenden Gemeindeleiters übernommen hat, wird geschäftsführender Ältester. Bereits 1967 hatte er daran erinnert, durch Offenheit gegenüber neuen Methoden, das Gemeindeleben zu aktivieren, und dabei an Kleingruppen gedacht, in denen intensive Schulung von Mitgliedern der Gemeinde stattfinden kann. Joachim Jäger und Günter Spielmann werden von der Gemeinde als weitere Mitglieder des Ältestenkreises bestätigt. Ab 1974 findet neben dem Sonntagsgottesdienst jeweils samstags ein Abendgottesdienst unter der Leitung von Wolfhard Margies statt, der in seinem Stil über die Jahre hinweg immer deutlicher charismatisches Erleben widerspiegelt und einen relativ festen Teilnehmerkreis hat - den sogenannten "Ruach-Kreis", eine Gruppe, die zum größten Teil aus jungen Erwachsenen der Charlottenburger Gemeinde und anderer Berliner Kirchen und Freikirchen besteht. Nachdem Wolfhard Margies 1975 von einem halbjährigen Aufenthalt an einer Bibelschule in den Vereinigten Staaten zurückkehrt, verselbständigt sich diese Gruppe innerhalb der Gemeinde immer mehr und ihre Veranstaltungen und Theologie bieten häufig Gesprächsstoff im Leitungskreis der Gemeinde, insbesondere nachdem Wolfhard Margies 1975 aus der Gemeindeleitung ausscheidet. Günter Spielmann tritt die Nachfolge als geschäftsführender Ältester an und wird in diesem Amt mit großem persönlichen Einsatz fast 25 Jahre prägend wirken.
Willi Bergemann hat gleich zu Anfang seiner Arbeit in Charlottenburg ein Signal für die nächsten zehn Jahre gesetzt, indem er evangelistische Gesprächsabende veranstaltete. Immer wieder spielen in dieser Zeit evangelistische Veranstaltungen eine wichtige Rolle im Gemeindeleben. Aber es sind nicht nur Großevangelisationen und Zeltmissionswochen, sondern auch die kontinuierlich nach außen gerichtete Arbeit der Gemeinde wird gefördert. So entsteht zum Beispiel 1977 eine sogenannte "Teestube" im Ladenlokal an der Bismarckstraße, und daneben 1979 eine "Bücherstube", in der christliche Literatur angeboten wird. 1975 übernimmt man die Patenschaft für die Neulandmissions-Gemeinde in Landshut. Schaut man in die Gemeindestatistik, so scheinen all diese Aktivitäten unmittelbaren Erfolg gehabt zu haben. Jedoch ist die Mitgliederzahl vor allem seit 1975 in die Höhe geschossen, weil eine koreanische Gemeinde, die Gastrecht in der Friedenskapelle genießt, komplett aufgenommen wird. Zu besonderen Gelegenheiten und Festzeiten gibt es immer wieder Berührungspunkte zwischen den "alteingesessenen" Mitgliedern der Gemeinde und den asiatischen Neuankömmlingen. Wegen der Sprachschwierigkeiten bleibt der koreanische Kreis aber eine "Gemeinde in der Gemeinde" und zum Gottesdienst und anderen Veranstaltungen für sich. Als innerhalb der koreanischen Gemeinde die Gruppe der Presbyterianer wächst und einflußreich wird, erklärt sich Pastor Li bereit, auf deren Wunsch hin auch Säuglingstaufen durchzuführen. Da Spannungen zur baptistischen Grundauffassung von Gemeinde und Gemeindemitgliedschaft offensichtlich sind, beschließt die Leitung der koreanischen Gruppe, eine selbstständige Gemeinde zu gründen und trennt sich 1979 von der Gemeinde in der Friedenskapelle.
Größere bauliche Veränderungen ergeben sich 1974. Eine Renovierung der Kircheninnenräume ist notwendig geworden, sowie auch die Erstellung eines größeren Gemeindesaals als Mehrzweckraum. Auch eine neue Orgel ist in Auftrag gegeben. Während der Umbauarbeiten ist die Gemeinde, wie auch schon bei einer Renovierung zehn Jahre zuvor, Gast in der Evangelischen Lietzenseekirche. Das Ende der umfangreichen Renovierung und die Einweihung der neuen Lötzerich-Orgel wird am 6. Oktober 1974 festlich begangen. Einen Monat später beendet Schwester Christa ihren Dienst als Gemeindeschwester. Das Diakoniewerk Bethel teilt mit, daß für die nächste Zeit keine Diakonissen mehr als Gemeindeschwester zur Verfügung stehen. So wird 1975 als neue Gemeindeschwester Brigitte Golbeck, eine ehemalige Krankenschwester, berufen. 1980 hat sich der Kreis um Wolfhard Margies in Wilmersdorf etabliert und bleibt in seiner theologischen Ausrichtung und seiner Zielsetzung in der "Muttergemeinde" umstritten. Als die Gruppe anfragt, ob sie offiziell als Stationsgemeinde der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Charlottenburg ausgesandt werden kann, kommt es in einer Gemeindeversammlung zur Abstimmung. Mit knapper Mehrheit spricht sich die Gemeinde dagegen aus, daß diese "Station" offiziell übernommen wird. So trennt sich die Gruppe von der Hauptgemeinde und gründet eine selbständige Gemeinde, die sich zunächst als "Evangelische Freikirche Wilmersdorf" bezeichnet, bald aber schon "Philadelphia-Gemeinde" heißt. Heute ist sie als "Gemeinde auf dem Weg" bekannt. Bei der Trennung verlassen ungefähr 20 Mitglieder die Charlottenburger Gemeinde, so daß die Statistik am Ende des Jahres 1980 noch 385 Mitglieder verzeichnet.
Im Rückblick heißt es für das Jahr 1981 in der Chronik, die anläßlich des 90. Jubiläums herausgegeben wurde: "Die Spannungen des Vorjahres wirken sich noch aus. Es ist das Bestreben nach Verständigung, einem neuen Anfang und nach Frieden." Die "Routine" des Gemeindelebens sorgt besonders in ihren evangelistischen Dimensionen für Kontinuität bei allem, was als Umbruch empfunden wird. Ein missionarisches Hausfest findet guten Anklang unter der Bevölkerung. Die regelmäßige Teestubenarbeit und evangelistische Straßeneinsätze in der nahegelegenen Fußgängerzone setzen Akzente im Gemeindeleben.
Willi Bergemann verläßt Charlottenburg nach fast zehnjähriger Tätigkeit in spannungsreicher Zeit, um als Pastor nach Aachen zu wechseln. Als sein Nachfolger beginnt Horst Joost im August 1983 seinen Dienst. In diesem Jahr wird aber nicht nur ein "Hauptamtlicher in Sachen Religion" nach Charlottenburg berufen, sondern auch eine "Hauptamtliche" von Charlottenburg ausgesandt: Ingrid Maier, die in Charlottenburg Mitglied ist, geht als Hebamme im Auftrag der Europäischen Baptistischen Missionsgesellschaft nach Kamerun. Fünf Jahre später folgen ihr zwei weitere Gemeindemitglieder, die im Auftrag derselben Missionsgesellschaft in Südkamerun arbeiten: Jörg und Manuela Reinecke.
1985 werden Günter Spielmann und Joachim Jäger erneut als Älteste berufen und im folgenden Jahr durch die Gemeindeversammlung bestä¬tigt. "Gemeinde - Ort heilender Gemeinschaft", so lautet das Thema einer Familienfreizeit 1983. Darin wird deutlich, daß auch die Trennungen in der Vergangenheit bei allem Ernst, der darin lag, nicht desillusionierend gewirkt haben. Man will einladend Gemeinde gestalten und zur Gemeinde einladen. Das Ladenlokal an der Straßenfront bietet sich hierzu an. Die Jugendgruppe veranstaltet regelmäßig sogenannte "Coffiebar"-Abende, bei denen man Themen des christlichen Glaubens zeitgemäß für junge Menschen vermittelt. Hierzu werden die an der Straße gelegenen Raeume zu einem Café umgestaltet. Kleinkunst und evangelistische Kurzansprachen stehen auf dem Programm. In denselben Räumen entsteht auch ein Schülertreff, der an mehreren Nachmittagen in der Woche stattfindet, und wo Schularbeitshilfe angeboten wird und den Gästen mit Ralf Arndt, einem ehemaligen Drogenabhängigen, ein Ansprechpartner zur Verfügung steht.
Nachdem man bereits 1985 begonnen hat, in den Räumen an der Bismarckstraße sonntäglich "Kirchenkaffee" nach dem Gottesdienst anzubieten, bildet sich 1987 eine neue Initiative, die in wechselnder Gestalt über ein Jahrzehnt lang bis heute eine von außen viel beachtete Seite des Gemeindelebens darstellt: man öffnet die Raeume als sogenanntes "Wochencafé" an zwei Vormittagen in der Woche, um Passanten nach dem Einkaufsbummel in der Wilmersdorfer Straße einen "Rastplatz" zu bieten. Anläßlich des 90-jährigen Jubiläums der Gemeinde wird im Geleitwort der damals erschienenen Chronik noch einmal bestätigt, woher die Motivation zu solchen Initiativen und Projekten kommt:
"Wir möchten in unserem großen Stadtteil Charlottenburg und in einer sich schnell verändernden Gesellschaft die Gemeindearbeit fortsetzen und unsere missionarischen, diakonischen und seelsorgerlichen Möglichkeiten entdecken und nutzen." Das kommende Jahr 1989 läutet tatsächlich - und besonders in Berlin - groß angelegte gesellschaftliche Veränderungen und den Beginn einer neuen Ära ein.
Mit einem Paukenschlag beginnen am 9. November 1989 ereignisreiche Monate für die Deutschen aus Ost und West: die DDR-Führung, die von Massendemonstrationen und einer Ausreisewelle unter Druck gesetzt ist, öffnet ihre Grenze zum Westen. Noch in derselben Nacht nehmen die "Mauerspechte" in Berlin die Arbeit auf und werden zu Symbolen dessen, was in den nächsten Monaten und Jahren in den Köpfen der Deutschen geschieht: das Abtragen der Mauer. Täglich kommen nun Tausende zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto vom Ost- in den Westteil der Stadt. Auch in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße drängeln sich die Besucher. Die Mitarbeiter des "Wochencafés" nehmen die Gelegenheit wahr und öffnen ihre Türe täglich zwischen 10 und 18 Uhr. Ungefähr 150 Besucher - zumeist DDR-Bürger - nehmen dieses Angebot Tag für Tag in Anspruch. Viele von ihnen sind zum ersten Mal in kirchlichen Räumen. Man kommt über das Tagesgeschehen und den christlichen Glauben ins Gespräch - diesseits der Mauer, die nach 28 Jahren, in denen sie das Stadtbild prägte, durchlässig geworden ist. Angeregt durch einen Vorschlag des Diakonischen Werks wird erwogen, eine offizielle Besucher-Empfangs-Stelle einzurichten, für die unter Umständen sogar eine ABM-Stelle geschaffen werden könnte. Auch das Bezirksamt sucht die Hilfe der Kirchengemeinden bei der Betreuung von Über- und Aussiedlern.
Einheit als Herausforderung 1990 bis 1998
Man sucht die Verbindungen und Begegnungen, die Jahrzehnte nicht möglich waren. 1990 findet ein erstes Treffen der Gemeindeleitung der Gemeinden Berlin-Charlottenburg mit dem Pastor und dem Gemeindeleiter der ehemaligen Stationsgemeinde Potsdam statt. Gemeinsame Gemeindeleitungssitzungen folgen, um gegenseitig die Gemeindearbeit kennenzulernen und zu klären, ob und wie man der ehemaligen "Tochter" in der neuen Situation zur Seite stehen kann.
Die veränderte Situation zwischen Ost und West kommt allerdings nicht nur in diesen Kontakten zum Tragen, sondern auch in der weitergehenden Entwicklung eines Arbeitszweiges, welcher über die kommenden Jahre die Außenwirkung der Gemeinde in der Friedenskirche nicht unwesentlich bestimmen soll, und intern immer wieder manche Diskussionen auslöst: das Wochencafé, das Besucher aus dem Ostteil der Stadt aufnahm, beginnt, immer mehr sozial schwach gestellte und wohnungslose Menschen zu beherbergen. Die missionarisch-diakonische Arbeit in dieser Einrichtung der Gemeinde spezialisiert sich auf diese Bevölkerungsgruppe. 1991 wird Udo Ferfers als sogenannter "missionarischer Mitarbeiter" schwerpunktmäßig für die Arbeit im Wochencafé angestellt, die ansonsten über die Jahre mit viel Einsatz fast jeden Tag von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleistet wird und seit 1994 mit Unterstützung von Zivildienstleistenden. Über die Förderung dieser diakonischen Arbeit durch den Senat von Berlin ergeben sich gute Kontakte zum Bezirksamt. Die diakonische Arbeit der Gemeinde weitet sich zusätzlich aus, als sich 1991 zwei weitere Arbeitsgruppen innerhalb der Gemeinde bilden, die bis heute noch bestehen. Eine Selbsthilfegruppe formiert sich, die sich jeweils an einem Abend in der Woche trifft, um miteinander über Lebens- und Glaubensfragen suchtkranker Christen zu reden. Eine Berliner Ortsgruppe der überregionalen Lebensrechts-Initiative "Pro Vita" bildet sich als Gemeindegruppe, um vor allem mit Beratung und praktischer Hilfe Frauen in Schwangerschaftskonflikten zu unterstützen.
Neben den neu begonnenen diakonischen Projekten werden aber auch alte Traditionen weitergeführt. Evangelistische Veranstaltungen finden in regelmäßigen Abständen statt, mal mit dem Janz Team aus Lörrach oder mit Pastor Karl-Heinz Gromberg, mal kindgerecht mit dem Puppentheater "Regenbogenstraße" oder informativ in Form eines Bibelcafés ICHTHYS, in dem Passanten Nachdenkliches zum Jahr der Bibel bei einer Tasse Kaffee angeboten wird. Der Mutter-und-Kind-Kreis hat seit 1993 eine neue Tradition eingeführt: er öffnet zweimal im Jahr die Tore zu den Höfen des Gemeindegrundstücks um dort sogenannte "Baby-Bazare" zu veranstalten, wo gut erhaltene Kinderkleidung und Spielsachen an Verkaufsständen angeboten werden und Gemeindegruppen ein Programm um den Verkaufsrummel veranstalten.
Auch im letzten Jahrzehnt der bisherigen Gemeindegeschichte gab es manche personellen Veränderungen. Im Jahr 1990 gibt Horst Joost seinen Dienstwechsel in die Gemeinde Bad Oeynhausen bekannt. Sein Nachfolger wird im Mai 1991 Bernhard Schwöll aus der Bethel-Gemeinde in Stuttgart. An seiner Seite nimmt schon bald zu Beginn des Jahres 1992 ein zweiter Pastor, Michael Kißkalt, seinen Anfangsdienst mit Schwerpunkt "Junge Gemeinde" auf. Als dieser nach Beendigung des Vikariats mit seiner Frau Margit in die Missionsarbeit nach Kamerun geht, beginnt Dr. Frank Woggon 1995 seinen Anfangsdienst in der Gemeinde, zunächst an der Seite von Bernhard Schwöll. Nach dessen Verabschiedung in den Ruhestand 1996 und Beendigung des Vikariats wird Frank Woggon von der Gemeinde als ihr Pastor bestätigt. Klaus Timm wird 1994 als zweiter Ältester bestätigt. Im Juni 1995 verabschiedete die Gemeinde eine langjährige Mitarbeiterin: Schwester Brigitte Golbeck beendet nach zwanzig Jahren ihren Dienst als Gemeindeschwester und beginnt ihren Ruhestand. Ihre Nachfolgerin als Gemeindediakonin wird Kirsten Schwöll. Nicht nur Neuerungen und neue Mitarbeiter werden in diesen Jahren eingeführt, sondern Altes wird auch aufgegeben. So wird die Arbeit auf der Station in Siemensstadt nach einer bewegten Geschichte von mehr als achtzig Jahren im September 1996 eingestellt. Gab es dreißig Jahre zuvor noch Pläne und Menschen für eine eigenständige Gemeinde dort, so beschränkte sich die Arbeit zum Schluß auf einen treu, aber schwach besuchten Bibelgesprächskreis, der sich in der Schule im Jungfernheideweg traf.
Loslassen und Neues umarmen - das gehört zu jeder individuellen Geschichte und auch zur Geschichte von Gemeinden, wie die vorangehenden Seiten zeigen. Äußere Faktoren können das notwendig machen: zwei Kriege, der Bau der Mauer und ihr Fall haben ihren Einfluß auf die Geschichte der Baptistengemeinde in Berlin-Charlottenburg gehabt und zum Teil Entwicklungen beeinflußt. Unterschiedliche Generationen von Pastoren und engagierten Mitgliedern der Gemeinde haben geprägt und ihrerseits Entwicklungen veranlaßt. Loslassen und Neues umarmen - das ist kein Automatismus oder Selbstzweck, sondern notwendig, um als christliche Gemeinde die Frage nach der eigenen Relevanz - und manchmal auch Effektivität - zu beantworten. Unterschiedliche Zeiten haben in der Charlottenburger Baptistengemeinde unterschiedliche Antworten hervorgebracht. Im letzten Jahrzehnt bestand eine Antwort auf die Frage nach der Relevanz der Gemeindearbeit im verstärkten diakonischen Engagement. Am Ende dieses Jahrhunderts - und fast zu Beginn eines neuen Jahrtausends - darf die Frage nach dem konkreten Auftrag dieser Gemeinde neu gestellt werden.
So ist das 100. Jubiläum der Gründung der Baptistengemeinde in Berlin-Charlottenburg nicht nur Anlaß zu dankbarer oder auch kritischer Erinnerung, sondern gleichzeitig eine gute Gelegenheit, auf der Grundlage einer bewegten Geschichte Perspektiven zu entwickeln und neue Wege zu erproben. Manche Aktivitäten der Gemeinde im Jubiläumsjahr - wie die Teilnahme als Mitveranstalter am 1. Berliner Theatermarkt an der Deutschen Oper, die Entwicklung eines neuen graphischen Erscheinungsbildes, der begonnene Prozess einer Beratung bezüglich zukünftiger Ziel der Gemeindearbeit und ein geplantes Forum zu Fragen der politischen Verantwortung von Christen in der Hauptstadt - wollen damit ernst machen. Dabei geht es aber nicht einfach um Aktion, sondern um Mission: um die Sendung der Gemeinde Jesu, die immer geschichtlich bedingte Formen annehmen wird und muß, aber die unabhängig von Formen, Ausprägungen und historischen Bedingungen ihre grundlegende Orientierung durch das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit Gottes erhält.
Randnotizen
Independentismus
"Independentismus, von independent = unabhängig, Bezeichnung für Gemeinden und Gemeindebünde, die auf der Grundlage der Selbstständigkeit (Autonomie) der Einzelgemeinde aufgebaut sind und ihre Unabhängigkeit von Staat, Bischofsamt und Synoden meist theokratisch mit Hilfe des Bundesgedankens (covenant) begründen. Zu den Independenten rechnet man u.a. die im Zuge des englischen Puritanismus sich bildenden Kongregationalisten, Presbyterianer und Baptisten" Erich Geldbach, Independentismus, in: Evangelisches Gemeindelexikon, 268)
"Vereine"
Die Arbeitszweige der meisten Gemeinden, Vereinigungen und des Bundes organisierten sich im Baptismus bis Mitte der 30iger Jahre dieses Jahrhunderts nach dem Vorbild des Vereinswesens. Diese "bündische" Form der Gemeindearbeit entsprach offenbar einem Bedürfnis nach Gemeinschaft und freier Organisation
Über das Ältestenamt
im Baptismus Geprägt von calvinistischen Idealen, die er in Schottland kennengelernt hatte, führte Johann Gerhard Oncken von den Anfängen des Baptismus an das Ältestenamt als den wesentlichen Teil der Leitungsstruktur in der Gemeinde ein.
Der Älteste oder die Ältesten waren die Autorität in der Gemeinde, die über die Lehre und das Bekenntnis wachten und ehrenamtlich, zum Teil auf Lebenszeit berufen, die Leitung der Gemeinde innehatten. So sollte der Älteste, nach Onckens Ideal, nicht der gewählte, sondern der zu einer Autorität herangewachsene Führer der Gemeinde sein. Mit der Gründung des baptistischen Predigerseminars 1880, wenige Jahre vor Onckens Tod, gab es einen Einschnitt in der Geschichte der Gemeinden. "Nun lag die Aufgabe der Verkündigung in vielen Gemeinden bald in den Händen ausgebildeter Prediger. Mancherorts lösten sie auch in der Gemeindeleitung den 'Ältesten' aus Onckens Zeit ab" (Günter Balders, Theurer Bruder Oncken, 158).
Sonntagschule
Die erste sogenannte "Sonntagschule" entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Gloucester, England, als der Redakteur R. Raikes am Sonntagmorgen verwahrloste Kinder unterrichtete, indem er ihnen anhand biblischer Geschichten Lesen und Schreiben beibrachte und versuchte, die Kinder in ihrer Lebenshaltung vom christlichen Glauben her zu prägen. Johann Gerhard Oncken begann zusammen mit Pfarrer Rautenberg 1825 eine Sonntagschularbeit nach englischem Muster in Hamburgs Vorstadt St. Georg, nachdem ihm die englische Sonntagschul-Union einen namhaften Betrag zur Eröffnung einer solchen Arbeit in Deutschland zur Verfügung gestellt hatte. In den Freikirchen hat sich die Sonntagschularbeit als katechetische Form durchgesetzt und bis heute gehalten.
Stationsgemeinden
Im missionarischen Konzept der Gemeinden "In den letzten Jahren hat sich zunehmend eine Bewegung durchgesetzt, die für die Entwicklung des Baptismus eigentlich untypisch und für seine missionarische Ausstrahlung eher hinderlich ist. Ich meine den Zug zur Zentralisierung. "Stationen" der Gemeinde, also auswärtige Predigtplätze und Versammlungsorte, wurden häufig aufgegeben ... . Dabei sind gerade die Stubenversammlungen, Kinderstunden und gottes¬dienstlichen Zusammenkünfte in Privathäusern oder Schulräumen die missionarischen Vorposten gewesen, die sich zu selbständigen Gemeinden entwickelt haben. Hier konnten Nachbarn und Kollegen aufgrund der Nähe eher zu den Versammlungen eingeladen und mitgenommen werden. Hier kamen natürlich auch die Predigthelfer zum Einsatz, wenn sie die Gottesdienste und Bibelstunden im Wechsel mit dem Gemeindeprediger auf den Stationen oder in der Muttergemeinde hielten" (Edwin Brandt, Vom Gemeindeleben der Baptisten, in: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 233f).
Bund der Baptistengemeinden
Auf Initiative von G. W. Lehmann schlossen sich im Revolutionsjahr 1848 zunächst die Gemeinden in Preußen zu einer "preußischen Vereinigung" der Baptistengemeinden zusammen, durch die man eine engere Verbindung zwischen den einzelnen Gemeinden suchte, um die äußere und innere Geschlossenheit zu stärken. Ein Jahr später, im Januar 1949, kamen dann Vertreter aller Gemeinden - außer Stuttgart - zu einer Konferenz in Hamburg zusammen, um unter der Leitung von Johann Gerhard Oncken die "Bildung einer zwiefachen Vereinigung der Gemeinden" zu beschließen, eines "Bundes der vereinigten Gemeinden getaufter Christen in Deutschland und Dänemark" und regionaler "Vereinigungen". Der Zweck dieses Bundes sollte sein: das gemeinsame Bekenntnis der Gemeinden, die Kräftigung der Gemeinschaft, die Mission und die Erhebung von Statistiken. Nach späteren Auseinandersetzungen um die Autonomie der Ortsgemeinde wurde auf der Bundeskonferenz von 1879 aufgrund bitterer Erfahrungen das alte Bundesstatut von 1849 geändert. "Die Bundeskonferenz faßt nur Beschlüsse", heißt es nun, "in ihren Verwaltungsangelegenheiten. Alle anderen Besprechungen sollen nur belehrend und ratend für alle Gemeinden und deren Abgeordnete sein" (vgl. Günter Balders, Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, in: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 25 und 42).
Katholisch-apostolische Gemeinden
Die Katholisch-apostolischen Gemeinden entstanden aus einer end¬zeitlich orientierten Erweckungsbewegung in England und Schottland im beginnenden 19. Jahrhundert. Innerhalb dieses geistlichen Aufbruchs spielten enthusiastische Erfahrungen, wie die sogenannte Glossolalie und Heilungserlebnisse, eine wesentliche Rolle. Lebende "Apostel", die als Zwölfergruppe in den Jahren 1832 bis 1835 benannt wurden, galten als unabdingbar notwendig für die richtige Verfassung der Kirche, ihre geistliche Kraft, und um die Kirche zur Einheit und zur Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi zu führen. Nachdem 1901 der letzte "Apostel" starb, wurden - anders als in der neuapostolischen Kirche - keine neuen Apostel benannt. Da es kein geistliches Amt mehr gab, enthielt man sich allen Wirkens nach außen, aber erhielt sich bis heute die ökumenische Gesinnung.
Diakonissen
1836 gründete Theodor Fliedner, angeregt durch Vorbilder holländischer Mennoniten und das Beispiel dienender Nächstenliebe einer gewissen Elisabeth Fry, die gefangene Frauen betreute, die Diakonissenanstalt von Kaiserswerth. In der Grundordnung der Kaiserswerther Generalkonferenz heißt es: "Diakonissen sind Dienerinnen des Herrn Jesus Christus und um seinetwillen Dienerinnen an den Hilfsbedürftigen aller Art und Dienerinnen untereinander. ... Diakonissen erkennen ihren Dienst als die von Gott gegebene Lebensaufgabe an." Die Schwesternschaften dieser sogenannten Mutterhaus-Diakonie versteht sich als Glaubensgemeinschaft, Dienstgemeinschaft und Lebensgemeinschaft (in "genossenschaftlicher" Form unter Ablehnung eines persönlichen Lohn- oder Gehaltempfangs). Rasch verbreitete sich die Idee dieser Form einer diakonischen Gemeinschaft, in der auch der Weg zu modernen Frauenberufen geöffnet wurde, innerhalb der evangelischen Kirchen und Freikirchen. Durch Eduard Scheve wurde das durch Theodor Fliedner wiederentdeckte urchristliche Amt der Diakonisse auch in Baptistengemeinden heimisch gemacht. 1887 wurde mit einer ehemaligen Kaiserswerther Schwester das erste baptistische Diakonissenhaus "Bethel" in den Räumen der Gemeinde Berlin, Gubener Straße, gegründet. Klassische Aufgaben des Diakonissenamtes sind Kinder-, Kranken- und Gemeindepflege in weit gefächerter Weise. (vgl. auch H. Wagner, "Diakonie", in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, 165-166).
Pfingstbewegung
Unter dem Begriff "Pfingstbewegung" wird eine Vielfalt christlicher Grup¬pen zusammengefaßt, die seit Anfang dieses Jahrhunderts ein im weitesten Sinne "enthusiastisches Christentum" verkörpern. Gemeinsam ist diesen in der Lehre oft sehr gegensätzlichen Gruppen, die Sicht, daß man die besonderen Wirkungen des Heiligen Geistes wie in den Tagen der ersten Geistausgießung (Apg. 2) nun "am Ende der Zeiten" erlebt. Das sogenannte "Zungenreden" gilt in den meisten Gruppen als notwendiges Zeichen einer besonderen Ausrüstung mit dem Heiligen Geist. Die Pfingstbewegung ist weltweit verbreitet und gehört nach dem 2. Weltkrieg besonders in Lateinamerika und Afrika zu den am schnellsten wachsenden protestantischen Denominationen. Be¬sonders von den USA, aber auch von Skandinavien, England und Deutschland aus zogen Missionare der Pfingstbewegung in alle Teile der Welt und gründeten bereits vor dem 1. Weltkrieg, oft in harter Auseinandersetzung mit anderen Missionsgesellschaften, Gemeinden. Unter den verschiedenen Gruppierungen der Pfingstbewegung in Deutschland gewann der "Christliche Gemeinschaftsverband Mühlheim/Ruhr" die größte Bedeutung.
Weltbund der Baptisten
Der Weltbund der Baptisten - "Baptist World Alliance" (BWA) genannt - wurde in London am 17. Juli 1905 auf einem Weltkongreß der leitenden Mitarbeiter baptistischer Missions- und Ausbildungswerke gegründet. In der Präambel der ersten Verfassung wird als Zweck der internationalen Vereinigung angegeben, daß "die Einheit der Gemeinden des baptistischen Glaubensbekenntnisses" dargestellt und die Gemeinschaft, der Dienst und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene gefördert werden soll, ohne allerdings die Unabhängigkeit jeder einzelner Gemeinde zu beeinträchtigen und in die Verwaltung der bestehenden Organisationen einzugreifen. Die 1980 in Toronto beschlossene Verfassung fügt dem hinzu, daß weitere Ziele der BWA sein sollen, die baptistische Beteiligung am ökumenischen Gespräch zu fördern und "als eine Stelle der Versöhnung tätig zu sein, die für alle Menschen Frieden sucht und den Anspruch der fundamentalen Menschenrechte einschließlich voller Religionsfreiheit aufrecht erhält". Wenn auch nicht alle baptistischen Bünde weltweit Mitglied im Weltbund sind, so doch etwa 130 nationale Bünde mit insgesamt ca. 32 Millionen Mitgliedern (vgl. auch Siegfried Kerstan, Der Welt¬baptismus, in: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 277ff).
Zeltmission
Die Zeltmission, die auf dem europäischen Festland von Jacob Vetter 1902 in Gestalt der "Deutschen Zeltmission" gegründet wurde, war eine Antwort auf die Entkirchlichung breiter Schichten der Bevölkerung. Die Verwendung eines Zeltes oder einer Zelthalle als Versammlungsort sollte dazu dienen, entkirchlichten Menschen einen neutralen Ort anzubieten, an dem es auch keiner religiösen oder sonstiger "Aufpolierung" bedurfte, um ihn zu besuchen. Insbesondere in den Jahren nach den Weltkriegen, in denen die politische und wirtschaftliche Situation vielen Menschen die Sinnfrage aufgab, hatten die Zeltmissionen den größten Zulauf mit zum Teil 3000 bis 4000 Besuchern pro Ver¬anstaltung in den Großstädten.
Bund freikirchlicher Christen (BfC)
Der BfC geht zurück auf Versammlungen, die sich jenseits von Konfessionsgrenzen Anfang des 19. Jahrhunderts in Dublin zusammenfanden und sich um John Nelson Darby organisierten. In Auseinandersetzung mit der anglikanischen Kirche hatte er den Gedanken des "Abfalls der Kirche", gleich welcher Benennung, entwickelt und gegen freikirchliche Bestrebungen geäußert, daß die "Wiedererrichtung des Verfallenen" nach urchristlichem Vorbild nicht möglich wäre. Dagegen sollte die Einheit der Gemeinde Jesu jenseits aller Kirchen deutlich werden in der Abendmahlsgemeinschaft der "wahren Gläubigen", unter Verzicht auf alle hierarchischen, institutionellen und liturgischen Elemente. Durch Darbys Reisen und umfangreiche Korrespondenz wurden auch sogenannte "Brüderversammlungen" in Deutschland gegründet. Carl Brockhaus war in der Frühzeit dieser Gemeinden prägend. 1937 schlossen sich die sogenannten "offenen Brüdergemeinden", die auch vielfältigen Einfluß zu anderen christlichen Gemeinden hatten, und die "exklusiveren" Gemeinden Brockhaus'scher Prägung wegen der Gefahr des Verbots durch die Nationalsozialisten zum "Bund freikirchlicher Christen" zusammen.
Bis heute ist für die "Brüdergemeinden" kennzeichnend: die sonntägliche Feier des Abendmahls, die zumeist in einem Gottesdienst vor dem Predigtgottesdienst stattfindet; die Gestaltung des Gemeindelebens und der Versammlungen, in denen die verantwortliche Gestaltung durch möglichst viele Mitarbeiter das bestimmende Prinzip ist; die weitgehende Ablehnung von ausgebildeten Pastoren als hauptamtliche Leiter der Gemeinden.
Charismatische Bewegung
Die charismatische Bewegung - auch "charismatische Erneuerung" genannt - ist eine weltweite Frömmigkeitsbewegung, die sich insbesondere auf das Wirken des Heiligen Geistes bezieht und den ersten wirklich überkonfessionellen Glaubensaufbruch in der Kirchengeschichte darstellt. Beeinflusst durch die "Jesus-People-Bewegung" hat sie - besonders durch die Vermittlung des lutherischen Pastors Arnold Bittlinger - in den 60iger Jahren dieses Jahrhunderts auch in Deutschland Fuß gefaßt. Charakteristisch für die Bewegung ist die Praktizierung von den im Neuen Testament erwähnten "Geistesgaben" (Charismen), die von Charismatikern als Erneuerungsimpulse für Kirchen und Gemeinde verstanden werden. Weiterhin ist eine starke Ausrichtung auf gemeinsames Loben und Anbeten in charismatischen Gemeinden typisch, so daß der Gottesdienst und seine musikalische Ausgestaltung einen wichtigen Platz einnehmen. Eine eminente Rolle innerhalb der charismatischen Bewegung spielt die Seelsorge in einer typischen Ausprägung, so daß diese Bewegung durchaus als Seelsorgebewegung bezeichnet werden kann.
Kamerunmission
Nachdem zunächst ab 1841 amerikanische Baptisten missionarische Pionierarbeit in Kamerun geleistet haben und die Baseler Mission begann, die Missionsarbeit fortzuführen, als Kamerun 1884 "deutsches Schutzgebiet" wurde, haben die deutschen Baptisten seit 1891 Missionare nach Kamerun entsandt. Auf die Initiative von Eduard Scheve ging die Gründung eines "Missionskomitees Kamerun" im Jahr 1890 in der Bethel-Gemeinde in Berlin zurück, welches ein Jahr später das Ehepaar Steffens als erste Missionare nach Kamerun entsandte. Die Arbeit wurde ab 1898 von einer selbständig arbeitenden baptistischen Missionsgesellschaft, die durch den Kaiser eigene Persönlichkeitsrechte erhielt, fortgeführt, so daß die volle Verantwortung für diese Arbeit streng genommen nicht mehr beim Bund der deutschen Baptistengemeinden lag. Heute entsendet die Europäische Baptistische Missionsgesellschaft Missionare nach Kamerun, die partnerschaftlich Hilfestellung geben in der dortigen Gemeindearbeit, Krankenversorgung und Gesundheitsvorsorge sowie technische Hilfe leisten und in der Ausbildung tätig sind.
Impressum/ Quellen und Literatur
Impressum
KIRCHE IM HOF - GEMEINDE FÜR MENSCHEN
100 Jahre illustrierte Geschichte der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in Berlin-Charlottenburg
1898 bis 1998
Herausgeber: Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde, Berlin-Charlottenburg K.d.ö.R., Friedenskirche
Text: Dr. Frank Woggon
Redaktion: Bernhard Schwöll, Frank Spielmann, Günter Spielmann, Dr. Frank Woggon
Gestaltung: Wolfgang Wedel, Bochum
Litho: Asap Graphische Werkstätten
Druck: Domröse und Kreiß
Auflage: 750 Stück
Berlin, im Oktober 1998
Quellen und Literatur
Autor/ Herausgeber
Titel
Auflage/ Ort/ Erscheinungsdatum
Balders, G. (Hg.)
Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe: 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland
Wuppertal/Kassel 1984
Balders, G.
Theurer Bruder Oncken. Das Leben Johann Gerhard Onckens in Bildern und Dokumenten
Wuppertal/Kassel 1978
Donat, R. |
Wie das Werk begann. Entstehung der deutschen Baptistengemeinden
Kassel 1958
Galling, K. u. a. (Hg.)
Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft
3. Auflage, Tübingen 1957 - 1965
Geldbach, E. u.a. (Hg.)
Evangelisches Gemeindelexikon
Wuppertal 1978
Diverse
Gemeindedienst. Zeitschrift der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Berlin, Nr. 21
August 1958
Diverse
Jahresberichte der Baptistengemeinde Charlottenburg, 1898 bis 1940, als Manuskripte gedruckt
Berlin 1899-1941
Luckey, H.
Johann Gerhard Oncken und die Anfänge des deutschen Baptismus
Kassel 1958
Lütz, D. (Hg.)
100 Jahre Deutsche Baptistische Mission in Kamerun
Bad Homburg 1991
McBeth, H. L.
The Baptist Heritage: Four centuries of Baptist Witness
Nashville 1987
Diverse
Neunzig Jahre Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Berlin-Charlottenburg, eine Jubiläumsschrift als Manuskript gedruckt
Berlin 1988
Reimer, H.-D.
Wenn der Geist in der Kirche wirken will. Ein Vierteljahrhundert charismatische Bewegung
Stuttgart 1987
Schütte, K.
Geschichte der Baptistengemeinde Charlottenburg 1898 - 1948, als Manuskript gedruckt
Berlin 1948
Simoleit, F. W. (Hg.)
Offizieller Bericht über den 1. Kongreß der europäischen Baptisten gehalten zu Berlin vom 29. August bis 3. September 1908
Kassel o. J.
Strübind, A
Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im "Dritten Reich"
Wuppertal/Kassel/Zürich 1995